Die vorliegende Studie hat das Ziel, den Untersuchungsgegenstand sowohl mit historisch-hermeneutischen wie auch sozialwissenschaftlich-analytischen Methoden zu behandeln. Dies nicht zuletzt aufgrund des Postulates von Rürup, "dass die Geschichtswissenschaft zumindest 'auch' historische Sozialwissenschaft zu sein hat, da sie um ihrer eigenen Aufgaben willen auf das Forschungsinstrumentarium der benachbarten Sozialwissenschaften nicht verzichten kann."(1) Dabei sollen zwar generalisierende Aussagen gemacht werden, nicht aber Gesetzmässigkeiten oder Entwicklungstendenzen herausgearbeitet werden, die für jeden geographischen Raum immerwährende Gültigkeit beanspruchen. Dies soll lediglich für eine genau definierte Raumeinheit und einen zeitlich begrenzten Rahmen geschehen.
Zugleich versteht sich diese Studie als Mosaikstein für die
Historische Demographie in dem Sinn, als zur sorgfältigen
Interpretation von demographischen Resultaten gründliche
Kenntnisse mikro- und makroregionaler Ereignisse (bspw. lokale
Missernten, die Möglichkeit zu protoindustriellem Nebenerwerb,
Verhältnisse in Realerbteilungsgebieten oder eben der Ausbruch
von Seuchen) absolut unerlässlich sind. Diese medizinhistorische
Arbeit mit interdisziplinärem Charakter unternimmt den Versuch,
die "Geschichte" der Pockenkrankheit in einem bestimmten
zeitlichen und geographischen Rahmen aufzuarbeiten und die Resultate
der Historischen Demographie zur Verfügung zu stellen, welche
sich bei der Interpretation historisch-demographischer Sachverhalte
nach den Worten Imhofs in Richtung auf eine "histoire totale"(2)
bewegt. Chaunu ist sogar der Meinung, dass "die historische
Demographie zumindest das Verdienst in Anspruch nehmen [kann],
uns mit dem Wesentlichen der Geschichte zu konfrontieren"(3).
Wie schon der Titel zum Ausdruck bringt, ist es das Ziel "über diesen Gegenstand nähere und bestimmtere Berichte einzuziehen". Da über die Pocken im Kanton Bern(4), der die zu untersuchende Raumeinheit darstellt, keine historische Untersuchung vorliegt, welche den Zeitraum von etwa 1700 bis 1900 umfasst, schien es angesichts der die Pocken betreffenden Vermutungen und Annahmen an der Zeit, sich mit dieser Thematik kritisch auseinanderzusetzen.
Bei den meistgenannten Hypothesen handelt es sich um folgende
Annahmen:
Die Pocken hatten während dem in Bezug auf diese Krankheit als "dramatischste Zeit"(5) bezeichneten 18. Jahrhundert schwerwiegende demographische Konsequenzen und forderten eine Vielzahl an Opfern sowohl unter Kindern wie auch unter Erwachsenen.
Die Pocken hatten bis ins 19. Jahrhundert hinein einen massgeblichen Anteil an der grossen Kindersterblichkeit.
Die Pocken forderten das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine beträchtliche Anzahl von Todesopfern.
Noch 1871 waren die Pocken ausschliesslich für die damalige
Mortalitätskrise verantwortlich(6).
Erstaunlich also, dass trotz diesen Vermutungen noch keine Untersuchung
vorliegt, welche die tatsächliche Bedeutung und die effektiven
demographischen Auswirkungen der Pocken unter der bernischen
Bevölkerung des 18. und 19. Jahrhunderts zu erhellen
versucht.
Ursprüngliche Absicht war, anhand von (fälschlicherweise vermutetem) vorhandenem statistischen Material ein umfassendes Bild des Wirkens der Pockenkrankheit von 1700 bis 1900 im Kanton Bern zu zeichnen und dadurch die oben erwähnten Hypothesen zu falsifizieren oder zu verifizieren. Nachdem sich jedoch erwies, dass die Quellensituation vor 1804 für Bern bezüglich des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit alles andere als günstig zu bezeichnen ist, musste das Ziel in Bezug auf den zeitlichen Rahmen einer Revision unterzogen werden: Quantitative Aussagen über Häufigkeit und Auswirkung der Pocken lassen sich für den Kanton Bern mit Hilfe der aufgefundenen Quellen über das 18. Jahrhundert nicht machen. Gestützt auf das zur Verfügung stehende Material(7) wurde dennoch versucht, von verschiedenen Seiten her mit unterschiedlichen Methoden(8) eine möglichst der historischen Wirklichkeit nahekommende Situation der Pockenverhältnisse im Kanton Bern für das 18. Jahrhundert zu rekonstruieren. Mangels Quellen musste aber der ursprünglich gewählte Untersuchungszeitraum auf die Zeitspanne von 1755 bis 1900 reduziert werden.
Für das 19. Jahrhundert lassen sich hingegen ab 1804 recht
präzise (und mit fortschreitenden Jahren immer genauere)
Angaben über die Pocken machen. Die Bedeutung, welche diese
Krankheit im demographischen Prozess hatte, kann für diesen
Zeitraum also gut abgeschätzt werden.
Ziel dieser Studie ist, das Wirken der Pockenkrankheit und deren demographische Konsequenzen ab 1755 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern zu untersuchen. Der empirischen Arbeit wird eine Darstellung der Aetiologie (Lehre von den Ursachen) dieser Krankheit und eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der diesen Gegenstand betreffenden Forschung vorangestellt, der Grundlagen und Anhaltspunkte vermittelt und zur Differenzierung der Problemstellung im Hinblick auf den empirischen Teil dient.
Der methodische Aufbau der Arbeit gestaltet sich folgendermassen: In einem ersten Teil steht die Aetiologie (Lehre von den Ursachen) der Pocken im Vordergrund. Mit Hilfe medizinischer und epidemiologischer Werke sollen die unterschiedlichen Faktoren (bspw. soziale, demographische, klimatische) erläutert werden, welche auf das Vorkommen und die Verbreitung der Pocken einen Einfluss haben und welche nicht.
Der zweite Teil setzt sich mit den verschiedenen Schutz- und Präventionsmethoden auseinander, die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Europa zur Anwendung gelangten und entwickelt oder entdeckt wurden. Im Vordergrund des Interesses steht, wie diese Massnahmen im Kanton Bern aufgenommen wurden, sowie welche Verbreitung und welche Auswirkungen sie hatten. Auch der effektive Wirkungsgrad dieser Präventionsmassnahmen wird kritisch untersucht.
In Kapitel 4 wird den Fragen nachgegangen, ob die Pocken in Europa vor dem 19. Jahrhundert wirklich die der weit verbreiteten Annahme entsprechenden massiven demographischen Konsequenzen hatten oder nicht und wie die Altersverteilung der von den Pocken betroffenen Menschen aussah. Dies geschieht in erster Linie anhand von in der Literatur aufgearbeiteten Quellen. Dadurch soll ein differenziertes Bild des Wirkens der Pockenkrankheit in den unterschiedlich dicht besiedelten Gebieten (sowohl den städtischen wie den ländlichen) Europas aufgezeigt werden. Soweit möglich werden aber auch Quellen des Kantons Bern miteinbezogen, um die Frage nach den hiesigen Verhältnissen befriedigend zu beantworten.
Der vierte Abschnitt befasst sich ausschliesslich mit dem Auftreten der Pocken im Kanton Bern von der Mitte des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Untersucht wird die Häufigkeit von Pockenepidemien, deren Grössenordnung und die Auswirkungen auf das öffentliche Leben. Zudem soll die Rolle, welche die Pocken im 19. Jahrhundert als Seuche im Kanton Bern gespielt haben, umfassend dargestellt werden.
Zum Thema der vorliegenden Arbeit wurde bis dato noch keine Studie
abgefasst. Hingegen gibt es einige Werke, die sich mit den Pocken
und deren historischer Bedeutung auseinandersetzen. Problematisch
an den Studien, die für sich in Anspruch nehmen, eine umfassende
Geschichte der Pocken zu schreiben, ist vielfach, dass durch das
meist gewählte grosse geographische und zeitliche Untersuchungsgebiet
die Arbeiten an Tiefenschärfe verlieren und generalisierende
Aussagen gemacht werden, die in dieser Art nicht genau auf ländliche,
aber auch nicht präzise auf städtische Gebiete zutreffen.
Diese Betrachtungsweise findet sich in der Monographie der WHO(9) (World Health Organization) von 1988. Dieser schwergewichtige Band wurde nach der erfolgreichen Beendigung des weltweiten WHO-Pocken-Ausrottungprogrammes (im Dezember 1979) publiziert und bietet eine Fülle von Informationen über die Pockenkrankheit. Hauptsächlich werden die klinischen Symptome, die verschiedenen Virentypen, die Pathologie und Immunologie, die Epidemiologie, die Wirkungsweise der unterschiedlichen Schutzmethoden und das durchgeführte Pocken-Ausrottungsprogramm sehr ausführlich und detailliert behandelt. Der historische Abriss ist jedoch im Vergleich mit den anderen Teilen eher dürftig ausgefallen und stützt sich weitgehend auf Sekundärliteratur. Er leidet vor allem daran, dass das geographische Untersuchungsfeld zu umfassend gewählt wurde: so soll die Geschichte der Pocken in China, in Indien und Asien, in Afrika, in Amerika, in Australien und nicht zuletzt auch in Europa behandelt werden. Hier liegt das Schwergewicht bei der Entdeckung der Schutzimpfung durch Jenner und der entstehenden Opposition gegen diese neuartige Methode im 19. Jahrhundert. Die Zeit des 18. Jahrhunderts ist kaum behandelt, lediglich die Prozentzahlen der Anteile von Pockentoten am Total aller Toten von London und Schweden werden - unkommentiert - veröffentlicht. Die knappen Erwähnungen über Vorkommen und Wirken der Pocken sowohl im 18. wie auch im 19. Jahrhundert haben generell einen zu allgemeinen Charakter. Dadurch werden sie unpräzise, vor allem auch, weil der europäische Kontinent bezüglich des Wirkens der Pocken keineswegs ein homogenes Gebilde darstellte. Mit wenigen grundsätzlichen Aussagen kann dieses Thema auf kontinentaler Ebene nicht ausreichend behandelt werden.
Mit gewissen Vorbehalten zu geniessen ist Donald R. Hopkins. Dabei handelt es sich um einen Arzt, der Ende der 1960er und in den 1970er Jahren in West- und Zentralafrika für das WHO-Programm im Kampf gegen die Pocken tätig war. Geprägt von diesen Erfahrungen entschloss er sich, die "Geschichte der Pocken" als "Testament"(10) für diese Krankheit zu schreiben. Dabei entstand in der Tat eine überaus umfassende Darstellung der die Pocken betreffenden Verhältnisse, die zusätzlich mit vielen anekdotischen Erzählungen ausgeschmückt ist. Dennoch leidet diese Arbeit unter demselben Mangel wie schon die Studie der WHO: sowohl das zeitliche wie das geographische Untersuchungsgebiet sind zu umfassend, um mehr als allgemeine Eindrücke zu vermitteln, welche sich zudem in einer Detailstudie wohl meist nicht bestätigen lassen würden. So werden die Pocken von der Antike bis in die Gegenwart in Europa, China, Indien, Afrika und Nord- und Südamerika behandelt. Ein beinahe unerklärlicher Mangel sind die quantitativen Angaben, die von Hopkins gemacht werden. Soweit diese anhand seines Literaturverweises nachgeprüft werden konnten, stellte sich heraus, dass die Zahlen, speziell diejenigen der Pockentodesfälle, aus der angegeben Quellen oder der Sekundärliteratur nicht genau übernommen, sondern vervielfacht wurden, wie dies beispielsweise mit denjenigen von Perrenoud geschah (vgl. dazu Fussnote 385 und Fussnote 338). Aus welchem Grund dies erfolgte, kann kaum beantwortet werden: sollten die Pocken durch eine grosse Anzahl von Toten ein grösseres historisches Gewicht erhalten oder handelte es sich lediglich um Nachlässigkeiten bei der Arbeit? Für die erste Annahme sprechen jedenfalls die von Hopkins gemachten steten quantitativen Aufzählungen von Pockenopfern, die sich durch die ganze Studie hindurchziehen, auch wenn diese Angaben (wie bei Carmichael zu erfahren ist) nicht immer als gesichert angesehen werden können.
Hopkins vertritt weiter die Meinung, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Pocken Pest, Lepra und Syphilis als verbreitetste Krankheit überflügelt hatten und dass das 18. Jahrhundert - speziell in Europa - die "dramatischste Zeit" in Bezug auf die Pocken darstellte, wobei es zur "heldenhaften" Konfrontation zwischen den Pocken und der Inokulation bzw. der Schutzimpfung kam(11).
Von Ann G. Carmichael(12) werden die Pocken in Europa in der Zeit vor dem 17. Jahrhundert ausserordentlich gut untersucht. Sie stützt sich in ihrem Artikel nur selten auf die äusserst produktiven Autoren des 19. Jahrhunderts, welche bis weit ins 20. Jahrhundert vielfach noch als verlässliche und einzige Informationsquellen benutzt wurden, sondern geht den Gegenstand von einer neuen Seite her an. Sie verwendet dazu hauptsächlich Uebersetzungen und Transkriptionen italienischer Quellen (v.a. aus dem Raum Toskana, Venedig, Mailand und Neapel), miteinbezogen werden aber auch französische, spanische und englische Angaben. Im Vordergrund steht bei Carmichael nicht in erster Linie die Frage nach dem Alter der Pockenkrankheit, sondern sie sucht mit Hilfe der Quellen denjenigen Zeitpunkt, an welchem sich der Charakter der Pocken von einer harmlosen Krankheit (wie sie es bis zum Ende des 15. Jahrhunderts waren) zu einer mit grosser Letalität(13) (ab dem 16. und vor allem während des 17. und 18. Jahrhunderts) zu verändern begann. Zurückgeführt wird diese Veränderung des Charakters der Pocken in erster Linie auf eine Mutation oder Transition des die Krankheit verursachenden Virus.
Eindeutig bezieht sie Stellung gegen die im 19. Jahrhundert gesammelten Berichte und Darstellungen, die eine kontinuierliche Geschichte der Pocken von der klassischen Antike über das Mittelalter bis hin zur Neuzeit suggerieren wollen, und die vielfach in Sekundär- und Tertiärgeschichten der "Pocken in Europa" wiederholt werden(14).
In ihrem Artikel werden essentiell neue Ergebnisse und Resultate gewonnen, die sie mit einer konsistenten Hypothese über die im Verlaufe der Zeit sich verändernde Virulenz der Pocken zu verbinden mag.
Weiter ist die Studie von J. R. Smith(15) zu nennen, der eine Untersuchung der Pocken in England von 1670 bis 1970 vorlegte. Eigentlich ist der Titel irreführend, befasst sich der grösste Teil doch mit dem Zeitraum von 1720 bis 1900 und mit den verschiedenen angewandten Schutzmethoden. Smith stützt sich für seine Aussagen meist auf Quellen und nicht auf Sekundärliteratur aus dem 19. Jahrhundert, die wegen der damals heftig geführten Kontroverse um den Nutzen oder die Schädlichkeit der Schutzpockenimpfung häufig ein verzerrtes Bild wiedergibt. Ihm gebührt die Ehre, dass er als einer der wenigen ausdrücklich auf die stark gegensätzlichen Pockenverhältnisse in bevölkerungsreichen und bevölkerungsarmen Gebieten hinweist.
So wurden in dichtbesiedelten Regionen mit vielen Einwohnern, in welchen die Pocken endemisch vorherrschten, jedes Jahr eine gewisse Anzahl von Pockentodesfällen registriert. Kam es zu einer Epidemie, die vielfach in Zyklen mit Vier- bis Siebenjahresabstand auftraten, waren im Gegensatz zu Gebieten ohne endemische Pocken die demographischen Konsequenzen in der Regel weniger gravierend.
Dieser Unterschied betraf auch die Resonanz und die Verbreitung, die die ab 1720 eingeführte Schutzmethode der Inokulation und ab 1800 diejenige der Impfung in ländlichen und städtischen Gebieten hatte. In städtischen und ländlichen Gegenden waren nicht dieselben Altersklassen von den Pocken betroffen, was einen Zusammenhang mit der Häufigkeit der Ausbrüche hatte: in Gegenden mit endemischem Vorkommen ("endemos" =einheimisch) - wie in London und anderen Grossstädten - handelt es sich wegen der steten Präsenz fast ausschliesslich um eine Krankheit, an der nur Kinder zu leiden hatten, im Gegensatz zu ländlichen Regionen, wo auch noch dem Kindesalter entwachsene Personen daran erkranken konnten(16).
Smith zieht - wie Carmichael - den Schluss, dass die Pocken in ihrer tödlichen Form erst im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts in Erscheinung traten. Er nimmt an, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die grosse Verbreitung einer von fünf Todesfällen direkt oder indirekt (durch Sekundärinfektionen nach einer Pockenattacke) auf Pocken zurückzuführen ist(17).
Alfred Perrenoud(18) hat das hervorragende und wohl beinahe einmalige Quellenmaterial verarbeitet, welches die Pockentodesfälle von Genf in einer von 1581 bis 1812 dauernden Zeitreihe dokumentiert. Obwohl zu stark die Rolle des Klimas als Faktor für das Auftreten von Pocken herangezogen wird (das, wie im WHO-Band erläutert wird, wenn überhaupt, einen höchst marginalen Einfluss hat), handelt es sich um eine Studie, die ebenfalls mit der Tradition bricht, sich grösstenteils auf Werke des 19. Jahrhunderts zu stützen; somit öffnete sie einen Weg zu neuen Erkenntnissen, der nicht schon durch die überlieferten Ansichten vorgegeben war. Thematisiert wird die Altersverteilung von Pockenkranken vor dem 19. Jahrhundert und die Pockenmortalität(19) seit 1581.
Die Pocken erscheinen bei ihm als Krankheit, an der im Untersuchungszeitraum vor allem Kinder zu leiden hatten.
Perrenoud vertritt die Meinung, dass endemische Pocken(20) an der hohen Kindersterblichkeit mitbeteiligt waren und dass jede schwere Epidemie einen Zehntel jeder Generation amputiert habe(21). Was vermutlich von Perrenoud nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ist die geringe Bevölkerungszahl Genfs, die es nicht ermöglicht, endemische Pocken zu unterhalten(22).
Ebenfalls neue Wege beschritten Turpeinen(23) und Lindskog(24), deren Studien sich auf den skandinavischen Raum beschränkten. Diese konnten aber dennoch nutzbringend für die vorliegende Arbeit verwendet werden. Die Autoren stützten sich auf das reiche statistische Quellenmaterial der beiden Staaten Finnland und Schweden: Turpeinen benutzte die jährlichen Bevölkerungstabellen Finnlands von 1751 bis 1865 und Lindskog verwendete das Material von fünf südschwedischen Propstbezirken (wohl eine dem bernischen Amt ähnliche Verwaltungseinheit) von 1749 bis 1818. Turpeinen konnte nachweisen, dass zwischen Misserntejahren und Pockenepidemien keine Korrelation bestand.
Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann in seinem Anfangsstadium nicht auf ein Absinken von Pockentodesfällen zurückgeführt werden, weil im Zeitraum von 1750 bis 1800 die Sterblichkeit an Pocken (und Masern) eher zugenommen hatte. Ebenfalls konnte er auf den erstaunlichen Umstand hinweisen, dass in Finnland bis 1773 Pocken und Masern in den Bevölkerungstabellen zu einer Rubrik zusammengefasst wurden.
Wie Lindskog darlegt, wurden in Schweden die Register ebenfalls
auf diese Art geführt. Und entgegen der Ansicht, Todesfälle
bei Masern seien nur sehr selten zu diagnostizieren, stellte er
fest, dass die heute meist gutartig verlaufenden Masern unter
schlechten hygienischen Bedingungen Letalitätswerte von 20
und mehr Prozenten erreichen konnten.
Neuere Studien, die sich ausschliesslich mit den Pocken befassen,
gibt es nicht überaus viele. Will man zu diesem Thema zu
wirklich neuen Erkenntnissen gelangen, müssen allgemein gehaltene
Werke über "Seuchen in der Geschichte"(25) ausgeschlossen
werden, da diese keine neuen Fakten darzustellen vermögen,
sondern in der Regel altbekanntes überblicksartig rezipieren.
Hingegen konnten die verschiedenen sozialgeschichtlichen Arbeiten
Imhofs(26) wertvolle Anregungen vermitteln und Beitragen zum besseren
Verständnis des Alltagslebens im 18. und 19. Jahrhundert.
Diese Darstellungen erlaubten auch, gewisse Verhältnisse
und Umstände im bernischen Gebiet - vor allem die geringe
Resonanz, die die Pocken während des 18. Jahrhunderts hatten
- zu erklären.
Die verschiedenen demographischen Regional- und Lokalstudien(27)
konnten ebenfalls nicht viele neue Fakten vermitteln, da diese
in der Regel für das 18. Jahrhundert in Bezug auf die Pocken
unter einer zu schmalen Datenbasis litten. Rödel(28) konnte
den Umstand, dass die Pocken in den Quellen nur selten erscheinen,
am Beispiel von Mainz plausibel erläutern. Die Person des
Pfarrers und die Grösse seiner Kirchgemeinde spielten für
eine Eintragung ins Totenregister dabei eine entscheidende Rolle.
Im Ganzen ist ein ernüchterndes Fazit über den aktuellen Forschungsstand zu ziehen. Trotz den Auswirkungen, die die Pocken im 18. und 19. Jahrhundert hatten, gibt es über diesen Gegenstand nur wenige neue Werke, welche nicht nur die bereits ein Jahrhundert zuvor schon vorgebrachten Fakten, Argumente und Ansichten, die zudem aufgrund der heftigen Diskussion um die Schutzpockenimpfung vielfach ideologisch verzerrt sind, nochmals aufnehmen und wiedergeben, sondern sich um eine neue Sicht bemühen.
Die Quellensituation bezüglich der Pockenkrankheit für den Kanton Bern vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts erwies sich als äusserst unbefriedigend, da nur sehr wenig Material zu diesem Thema vorliegt. Bereits Klebs, der 1914 ein Werk über die Variolation(29) des 18. Jahrhunderts schrieb und nach überlieferten Quellen für den Kanton Bern suchte, stellte fest, dass nur sehr wenig geeignetes Material vorhanden ist(30). Reust erwähnte 1980 in ihrer Arbeit über Säuglings- und Kindersterblichkeit in der Stadt Bern von 1750 bis 1780 ebenfalls, dass sie kaum Hinweise auf die besonders Kinder erfassenden Krankheiten wie Pocken, Masern und Scharlach fand. Sie nimmt dabei an, dass das Ausmass und die Grösse einer stattgefundenen Epidemie keine entscheidende Rolle spielte für ihre schriftliche Ueberlieferung(31).
Da aber im Kanton Bern ab 1728 von den Pfarrherren Totenrödel geführt werden mussten, welche von BERNHIST(32) zu einem grossen Teil erfasst wurden, bestand Anlass zur Hoffnung, in diesen Beständen fündig zu werden, da häufig nicht nur Name und Alter des Verstorbenen, sondern auch die Todesursache registriert wurde. Leider konnte dieses Material die Erwartungen nicht erfüllen, da die Angaben über durch Pocken verursachte Todesfälle viel zu spärlich und ungenau ausfielen. Lediglich im letzten Dezenium des 18. Jahrhunderts lassen sich gewisse Rückschlüsse über das Vorkommen der Pocken ziehen(33). Als Ursache für diese wenigen Aufzeichnungen kommen die folgenden drei Gründe in Frage:
Erstens könnten die Eintragungen über das Auftreten der Pocken von den Pfarrherren wirklich gemacht worden sein. Diese wurden aber nicht oder nur teilweise in die Datenedition BERNHIST übertragen (evt. weil bei der Aufnahme ein anderer thematischer Schwerpunkt gesetzt worden war).
Zweitens ist es möglich, dass einige Totenrödel durch verschiedenste Ereignisse (Feuer- und Wasserschäden, Krieg etc.) verloren gingen.
Drittens könnten die Pfarrer ihre Bücher nicht mit genügend Sorgfalt und Zeitaufwand geführt haben, zudem fehlten ihnen teilweise sicherlich auch die notwendigen medizinischen Kenntnisse, um die Todesursache korrekt zu diagnostizieren.
Rödel erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die in den Mainzer Kirchenbücher enthaltenen Eintragungen der Todesursachen sehr willkürlich und nach Belieben der jeweiligen Pfarrer oder Kapläne vorgenommen wurden. Es war ihnen auch freigestellt, ob sie noch zusätzliche Vermerke bei den Todesfällen anbringen wollten oder nicht. Rödel konstatierte weiter, dass sich selbst bei grassierenden Seuchen oft gar keine, selten summarische Angaben finden. Er zieht daraus den Schluss, dass dies ein deutlicher Hinweis darauf sei, wie zufällig diese Eintragungen zustandegekommen sind(34). Was für Mainz und andere Gemeinden zutrifft, ist vermutlich auch in Bern vorgefallen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls auch Reust. Sie schreibt, dass die Totenrödel der Stadt Bern in den wenigsten Fällen Auskunft geben über die Todesursache und sogar grosse Epidemien nicht erwähnt werden(35). Dies wäre damit folglich ein Grund, welcher die mangelnde Datenbasis teilweise erklären würde.
Auffallend an den Daten von BERNHIST ist weiter, dass von den
grösseren Orten wie etwa Bern, Burgdorf oder Thun, wo die
Pocken dank der grösseren Bevölkerungsdichte bessere
Bedingungen zur Verbreitung vorfanden als auf dem Land, nicht
eine einzige Eintragung über Pockentote vorliegt. Als mögliche
Ursache für diesen Umstand kann die Grösse der Gemeinde
ausschlaggebend gewesen sein. Wiederum Rödel schreibt dazu,
dass erfahrungsgemäss die Eintragungen in den Kirchenbüchern
unterschiedlich umfangreich und aussagekräftig ausfallen,
je nach der Anzahl der zu betreuenden Seelen innerhalb einer Gemeinde
und den dadurch in verschiedener Menge anfallenden Akten(36).
Mit anderen Worten: Je mehr Menschen in einer Kirchgemeinde lebten,
umso kleiner die Chance, für diese Gemeinde detailliertes
und ausführliches Material vorzufinden, da die Seelsorger
wegen der grossen Anzahl zu betreuender Personen die Zeit nicht
mehr fanden, alle Vorfälle genau aufzuschreiben.
Nachdem sich erwies, dass die statistischen Angaben von BERNHIST bezüglich der Pocken aufgrund von "Erfassungsfehlern"(37) für eine konkrete Aussage nur bedingt brauchbar sind, stellte sich heraus, dass auch die Bestände des Staatsarchives Bern die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts nur sehr knapp dokumentieren. Im Polizeibuch für das Jahr 1777 findet sich die handschriftliche Anweisung "Wegen Einpfropfung der Pocken oder Kindsblatteren"(38) und im Mandatenbuch, ebenfalls von 1777, den von Hand verfassten Erlass "Wegen des Pockenmandates in den gemeinen Aemtern"(39). Die "Sammlung von Gutachten, Vorträgen, Berichten, Befinden aus den Gebieten der Menschen- und Tierheilkunde"(40) beinhaltet verschiedenes Material, vorwiegend zum Thema über Verhaltensmassregeln bezüglich der Inokulation in den Städten. Die "Räthe für gesunde und kranke Landleute"(41), welche in gedruckter Form vorliegen, erteilen nur Ratschläge zur Behandlung "faulichter Fieber". Jedoch kann durch sie der Verbreitungsmodus obrigkeitlicher Verordnungen und Anweisungen eingesehen werden.
Verwendet wurde auch die "Sammlung von Etats in herrschenden Krankheiten im Land"(42) von 1764 bis 1784, die "Aktensammlung über das Auftreten epidemischer Krankheiten in verschiedenen Gebieten des In- und Auslandes"(43) für die Jahre 1769 bis 1772 und die "Akten über das Auftreten epidemischer Erkrankungen"(44) 1771 und 1772. In diesen Sammlungen von Berichten, Briefen, "Special-Sanitätstabellen" oder "General-Sanitätstabellen" (die je nach Schwere einer Epidemie wöchentlich, monatlich oder nur einmal für die Dauer der Seuche erstellt wurden und über die Zahl der Kranken, Toten und Genesenden sowie über die vom zuständigen Arzt verordneten Arzneien und die dadurch angelaufenen Kosten Auskunft zu erteilen hatten) etc. werden die Pocken aber nicht erwähnt ausser einer kleinen Eintragung von drei Fällen "böser Art", welche sich im Amt Thorberg vom "Hornung bis May" 1768 ereigneten. Ein Bild über die dominierenden Krankheiten lässt sich vor allem anhand der vorgedruckten Tabellen (den schon erwähnten "Special-" oder "General-Sanitätstabellen") machen. Diese wurden von einem Arzt jeweilen meist nur gerade für die Raumeinheit erstellt, welche von der herrschenden Krankheit betroffen war, dabei konnte es sich um Aemter, Landgerichte, Kirchgemeinden oder Viertel (die weitgehend den heutigen Einwohnergemeinden entsprechen) handeln. Die von Hand ausgefüllten Papierbogen wurden nach Bern an den Sanitätsrat gesandt. Dabei dominieren folgende Krankheitsbezeichnungen: Weitaus am meisten wird die "Rote Ruhr"(45) (selten auch "Weisse Ruhr", "Ruhr" oder schlicht "rr") registriert, welche teilweise ebenfalls als "Dissenterie" (oder "Dysenterie") bezeichnet wurde. Häufig erscheinen auch die unter vielen verschiedenen Bezeichnungen laufenden Fieberkrankheiten(46) wie "Faulfieber", "Fäülings Fieber", "Bösartig Fieber", "Böses Fieber", "gallichte Fieber", "hitzige Fieber", "faulichte Fieber", "Febris malignis" oder "Febris maligna" und "Febris putrida". Weiter werden die folgenden Diagnosen recht häufig gestellt: "Peripneumonia Spuria", "Brustwassersucht" und "Seitenstich".
Neben diesen Tabellen über epidemische Krankheiten ist weiter eine grosse Korrespondenz mit Städten des näheren und weiteren Auslandes über das vermutete oder tatsächliche Auftreten von Vieh- und Menschenseuchen vorhanden. Bei den menschlichen Erkrankungen war die Pest das Hauptthema. Diese trat im 18. Jahrhundert noch in den östlichen Gebieten Europas, in den Hafenstädten des Mittelmeeres und auf dem Balkan(47) auf und vermochte allein durch kursierende Gerüchte auch in den westlichen Teilen des Kontinentes noch Furcht und Besorgnis zu erregen.
Die Suche nach Anhaltspunkten über das Auftreten der Pocken
blieb auch in den "Receptenbüchern des Sanitätsrathes"(48)
und in den "General- und Spezial-Sanitätstabellen für
den deutschen Kantonsteil"(49) erfolglos. Aus arbeitsökonomischen
Gründen war es nicht möglich, auch noch die "Manuale
des Sanitätsrates"(50) vollständig durchzusehen,
dies geschah nur für die Jahre, in denen das Auftreten der
Pocken vermutet worden ist. Ausser in den Bänden von 1804,
welche die Korrespondenz über die Einführung und Regelung
der Schutzimpfung enthalten(51), wurde in den durchgesehenen Manualen
- vorwiegend der Jahre zwischen 1790 und 1800 - mit Ausnahme marginaler
Erwähnungen über Inokulationen aber nichts gefunden.
Bei der Durchsicht der "Gedruckten Vorsorgen die Sanität
angehend"(52) und der "Annotationen über Sanitetsachen"(53)
wurde nach gedruckten oder handschriftlichen therapeutischen und
präventiven Anweisungen zur Behandlung der Pocken für
die Untertanen gesucht, welche Rückschlüsse auf die
damaligen Auffassungen und Behandlungsmethoden ermöglicht
hätten. Doch auch in diesen Betsänden fanden sich keine
Hinweise auf die Pockenkrankheit. Einmal mehr war die "Rote
Ruhr" und die Vorbeugung und Behandlung von "Vieh-Presten"
das meistbehandelte Thema.
In den Beständen des Schweizerischen Bundesarchives fand
sich in der Abteilung B (Helvetische Republik 1798 bis 1803) neben
ausführlichsten Berichten über eine sich über mehrere
Jahre hinweg erstreckende "Hornvieh-Pest" im Kanton
Bern (vor allem im Aaretal) Material über eine Pockenepidemie,
die 1798 einen grossen Teil des Gebietes der Helvetischen Republik
heimsuchte. Wenn diese Berichte auch nicht besonders ausführlich
ausgefallen sind, stellen sie dennoch die einzigen mit konkreten
Angaben über eine Epidemie des 18. Jahrhunderts dar, welche
für den Kanton Bern in seinen heutigen Grenzen gefunden werden
konnten. Dabei handelt es sich um vorgedruckte Tabellen, die jeweils
für die betroffenen Kantone (aufgeschlüsselt nach Kirchgemeinden)
von Hand ausgefüllt und an die Zentralregierung der Helvetischen
Republik in Aarau überstellt wurden(54).
Wie schon erwähnt, war aber die dominierende Krankheit in den Quellen die Rote Ruhr(55), gefolgt von verschiedensten Fieberarten. Auch die Pest war beinahe das gesamte 18. Jahrhundert hindurch Anlass für eine Vielzahl von handschriftlichen Schriftstücken.
Immer wieder Eingang in die Quellen fanden zudem Berichte über "Viehpresten" sowie Anweisungen zur Prävention derselben, was angesichts der Bedeutung des Viehs als Nahrungsgrundlage und Wertanlage nicht zu erstaunen vermag.
Die Pocken aber, welche gerade während des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Anzahl von Opfern forderten, treten in den von mir eingesehenen Dokumenten kaum in Erscheinung.
Ein möglicher Grund für diesen Umstand, kann der Charakter der Pockenkrankheit sein: eine beinahe unumgängliche Kinderkrankheit (die vorwiegend Kinder traf und deshalb auch das Sozial- und Wirtschaftsgefüge einer Gemeinde nicht nachhaltig erschüttern konnte)(56), gegen die kaum wirksame Vorkehrungen existierten, der eine soziale Stigmatisierung abging(57) und der praktisch niemand entging, mit einer von Epidemie zu Epidemie unterschiedlichen Anzahl von Toten (bei einer gegebenen Menge von Kranken), fand gerade aufgrund ihrer Alltäglichkeit und Banalität den Eingang in die Quellen nicht(58), dies in krassem Gegensatz zu einer ebenso ekelhaften - wenn nicht sogar abscheulicheren - Krankheit wie der Ruhr, welche beim Grassieren als aussergewöhnliches Ereignis angesehen wurde und dementsprechend den schriftlichen Verkehr in grösserem Masse zu mobilisieren vermochte, als die quasi zum täglichen Brot des 18. Jahrhunderts gehörende Pockenkrankheit. Das Fehlen quantitativer Angaben kann aber auch eine viel trivialere Ursache haben: So forderte der Sanitätsrat am 14. März 1778 von den Stadtärzten "einen gründlichen und umständlichen medicinischen Bericht in Ansehen der Kinderblatteren". Dieser verlangte zudem noch "eine exacte Verzeichnuss von allen, gegenwärtig in der Stadt Bern, von ihrem Anfang gar, an den Kinderblatteren darniedergelegenen, genesenen und gestorbenen; sie mögen dann durch Sie Me[ine] h[och]g[eehrten]H[erren] selbst, oder von anderen Aerzten tractirt worden seyn, beygefügt sehen." Die Antwort des Insul Collegy vom 2. April fiel negativ aus, die Aerzte mussten mitteilen, es sei unmöglich, ein solches "Verzeichnuss" zu erstellen, "indem die meisten durch Fremde Medici, Chirurgi und Apotheker in Ihrer Krankheit besorgt und tractiert worden sind. [...] Daneben haben viele Kinder die Blattern gehabt, ohne von Jemandem der die Arzney Kunst ausübt, besucht zu werden."(59) Die Zusammenstellung einer Tabelle wurde also durch den Umstand verunmöglicht, dass einerseits viele auswärtige Mediziner die Kranken betreuten, ohne dass die Stadtärzte davon Kenntnis hatten(60) und andererseits eine grosse Zahl von Fällen nicht bekannt wurden, da sie auch keiner Behandlung unterlagen. Bei dieser zweiten Gruppe dürfte es hauptsächlich um Bedürftige gehandelt haben, die sich für ihre Familie die medizinische Versorgung nicht leisten konnte.
Ein weiterer Grund für das Fehlen von schriftlichen Archivalien über lebens-, familien- und gemeinschaftsbedrohende Ereignisse wie Krankheiten und Seuchen könnte nach Imhof auch auf die Existenz eines "kollektiven Nicht-Bewussten"(61) zurückzuführen sein.
Für die Jahre von 1804 bis 1830 wurden als zentrale Quellen die schon erwähnten "Manuale des Sanitätsrates", welche Dokumente über die Einführung der Impfung enthalten, die "General-Tabellen über die von patentierten Aerzten im Kanton Bern ausgeführten Schutzpockenimpfungen"(62) und die "Sammlung der General-Berichte über das Impfwesen im Kanton Bern"(63) verwendet. Dabei handelt es sich um die handschriftlichen Originalaufzeichnungen des jeweiligen Oberimpfarztes des Kantons Bern, welche einschliesslich des Briefumschlages lose in Mappen aufbewahrt werden und je nach Jahr und der Person des Arztes bis zu 30 Seiten umfassen konnten. Die Oberimpfärzte äusserten sich in ihren Berichten über die Zahl der durchgeführten Impfungen an armen und nichtarmen Personen, über die Qualität des verwendeten Impfstoffes, über besondere Vorkommnisse und dermatologische Erscheinungen im Zusammenhang mit dem Impfwesen sowie der Pockenkrankheit und über das Auftreten der Pocken im Kanton Bern, wobei dies ausschliesslich in narrativer Form geschah. Konkrete Angaben konnten von den Aerzten nicht gemacht werden, da ihre Berichte vielfach nur auf Gerüchten und vagen Erzählungen beruhten oder sie die benötigten Unterlagen für eine präzise Angabe nicht zugestellt erhielten. Auch die Tabelle der geimpften und ungeimpften Kinder(64), welche um das Jahr 1807 erstellt wurde, ist durch massive "Erfassungsfehler" für eine Aussage nicht verwendbar (im Vergleich mit dem Zahlenmaterial der Datenbank BERNHIST stellte sich heraus, dass in dieser Zusammenstellung maximal die Hälfte der zu registrierenden Kinder erfasst wurden).
Weiter liegen Hinweise(65) auf einen den Kanton Bern betreffenden Band von "amtlichen Berichten über Krankheiten unter den Menschen" von 1804 bis 1811 vor, welcher sich im Archiv der heute nicht mehr bestehenden Direktion des Innern befinden sollte. Nach mündlicher Mitteilung von Prof. Christian Pfister sind die ehemaligen Bestände dieses Archivs als verloren anzusehen.
Von 1831 bis 1900 sind die Berichte der Oberimpfärzte, wie vielfach das statistische Urmaterial im Kanton Bern, nicht mehr erhalten. In dieser Periode wurden jedoch in den ab 1831 jährlich erscheinenden Staatsverwaltungsberichten von der Direktion des Innern die vom Oberimpfarzt erhaltenen Angaben publiziert. Unter der Ueberschrift "Impfwesen" oder "Impfanstalt" wurde eine Uebersicht der jährlich durchgeführten Impfungen und Wiederimpfungen (Revaccinationen) an armen und nichtarmen Personen wiedergegeben. Diese Zahlen waren aber häufig nicht vollständig, da die in den einzelnen Aemtern tätigen Kreisimpfärzte vielfach versäumten, rechtzeitig die Tabellen einzusenden oder es zum Teil sogar unterliessen, überhaupt Buch über die von ihnen gemachte Anzahl Impfungen zu führen und "es ist daher klar, dass die Zahl der Impfungen jährlich nur approximativ angegeben werden kann: eine grössere Strenge bei Einforderung dieser Tabellen wird durchaus nothwendig, wenn nicht alle statistischen Angaben völlig illusorisch werden sollen."(66) Auch der 1832 tätige Oberimpfarzt Karl Flügel hat den sicher nicht unbegründeten Verdacht, dass die "Zahl [der Pockenfälle] gewiss doppelt angenommen werden kann, wegen der Saumseligkeit vieler Aerzte die ihnen bekannt gewordenen Pockenfälle nicht mitgetheilt zu haben, und wegen der vielen Pockenkranken, die keinem Arzt bekannt worden sind."(67)
Weiter wurde in den Staatsverwaltungsberichten unter einer von
Jahr zu Jahr unterschiedlich benannten Rubrik(68) über das
Auftreten von Krankheiten unter den Menschen berichtet. Die gemachten
Angaben über das Vorkommen der Pocken sind jedoch nicht präzise.
Vielfach wird nur erwähnt, dass "einige" oder "viele"
Menschen von den Pocken erfasst wurden, dass "einige Fälle
mit dem Tode endeten", dass in einzelnen Gemeinden oder Amtsbezirken
die Pocken vorkommen oder dass sie mit "mehrerer oder minderer
Heftigkeit" ausgebrochen seien. Diese weder in Zahlen zu
fassenden noch in eine Grössenordnung einzureihenden narrativen
Angaben wurden bis etwa 1865 gemacht. Ab diesem Jahr, in welchem
ein Auftreten der Pocken verzeichnet wurde wie es seit 1831/32
nie mehr mit dieser Heftigkeit geschah, wurden die Zahlen nun
präziser, jedoch ebenfalls nur in Jahren mit verstärktem
Pockenvorkommen. Für die Pockenepidemien in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts (1870 bis 1872, 1881, 1891 bis 1892 und 1894)
wurden im Kanton Bern sogar separate Berichte(69) verfasst, die
- wenn auch nicht absolut genaue - doch recht gute Angaben enthalten,
welche es ermöglichen, die Grösse der stattgefundenen
Epidemie einzuschätzen.
Das mit erheblichem Aufwand zusammengetragene Material(70) über das Auftreten der Pocken im Kanton Bern während des 18. und 19. Jahrhunderts lässt zumindest bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nur in wenigen vereinzelten Jahren quantitative Angaben zu. Was für die Periode von etwa 1750 bis in die 1820er Jahre hingegen möglich ist, ist anhand der aufgefundenen Berichte im Vergleich mit in der Literatur aufgearbeiteten Quellen ein Bild der die Pocken betreffenden Verhältnisse im Kanton Bern zu zeichnen. Mit anderen Worten: der Aufbau dieser Arbeit ist wesentlich geprägt durch die Absenz sowohl aussagekräftiger statistischer wie auch narrativer Quellen bis ungefähr in die 1820er Jahre.
Der erste Teil der Arbeit soll einige Grundlagen und -begriffe vermitteln, um zum besseren Verständnis der folgenden Kapitel beizutragen. Einerseits handelt es sich dabei um die medizinischen Theorien früherer Jahrhunderte und andererseits um die Vermittlung der Ursachen (Aetiologie), der Wirkungsweise, der physischen Folgen und der Ansteckungswege der Infektionskrankheit Pocken.
Bis in die frühe Neuzeit war die Humoralpathologie(71) (oder
auch Säftelehre) das massgebende Leitkonzept der professionellen
Medizin. Die ungleichgewichtige, schlechte Mischung aller Körpersäfte,
insbesondere der vier Kardinalsäfte Blut, Schleim, gelbe
und schwarze Galle wurde verantwortlich gemacht für alle
Krankheitszustände. Die Gesundheit hingegen beruht auf der
harmonischen Druchmischung dieser Säfte, welche als Zustand
der Eukrasie bezeichnet wurde. Die Therapie, im Sinne des "contraria
contrariis", die auf die Wiederherstellung der Eukrasie zielte,
verwendete vor allem evakuierende Massnahmen wie Aderlass, Schröpfen,
Abführen, Erbrechen und Niesenlassen. Die Behandlung war
schematisch: einbezogen wurden die vier Elemente Luft (trocken),
Wasser (feucht), Feuer (warm) und Erde (trocken) und die ihnen
zugeordneten Jahreszeiten. Gegen "heisse" Krankheiten
wurden folglich kalte Mittel angewendet und umgekehrt(72).
Im 17. Jahrhundert darf zudem der Einfluss religiöser und astrologischer Konzepte in der praktischen Medizin nicht unterschätzt werden: Humoralpathologie, Qualitätenpathologie(73) und Iatroastrologie(74) verbanden sich in der Krankheitsvorstellung zu festen Zuordnungen(75).
Abb. 1: Aderlassmännlein mit Tierkreiszeichen. Holzschnitt aus dem Almanach für 1493 von Joh. Grüninger (Strassburg). Der Aderlass sollte nur im Einklang mit den Kräften des Kosmos durchgeführt werden, wobei die Stellung des Mondes und die Organkorrespondenz der Tierkreiszeichen von Bedeutung war.
Die erste klare, eindeutige Beschreibung der Pocken überlieferte der arabische Arzt und Physiker Rhazes (860 - 932 n. Chr.). Er identifizierte sie als Kinderkrankheit und sah die Pocken als heilsame Krankheit an, welche die unvermeidbare Transition des "feuchten", unreifen Blutes der Kindheit hin zum Reifen, "Trockenen" der Erwachsenen unterstützte(76). Es scheint auch, dass die Pocken im 10. Jahrhundert in der Islamischen Welt den Status einer heilenden und endemischen(77) Krankheit hatten, Todesfälle kamen nur bei infizierten Erwachsenen und bei falscher Behandlung vor.
Es waren zwei Krankheiten, die die europäische Gesellschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts verunsicherten: die Syphilis(78) und der "Englische Schweiss"(79). Beide Krankheiten waren offensichtlich noch nie aufgetreten und folglich von antiken Autoritäten auch nicht beschrieben worden. Bereits in der Diskussion um Entstehung, Ausbreitung und Verbreitung der Pest wurde die Möglichkeit eines besonderen, kontagiösen Verbreitungsmodus erwogen, da in der Ursachendiskussion kein Konsens über die verschiedenen traditionellen Erklärungsmodelle(80) gefunden wurde. Dieses Problem stellte sich mit den zwei neuen Seuchen erneut. Der Veroneser Girolamo Fracastoro (1484 - 1553), welcher die neuen Krankheiten studierte, formulierte 1546 seine Kontagienlehre(81): Er war der Ansicht, dass bei epidemischen Krankheiten eine Ansteckung durch spezifische Keime (welche die Kraft besassen, sich im Körper des Kranken zu vermehren) durch direkten Kontakt oder durch die Luft erfolge(82). Fracastoro beschrieb nebst den Pocken auch Masern, Beulenpest, Tuberkulose, Lepra, "Englischer Schweiss", Syphilis, Flecktyphus und diverse Hautkrankheiten. Er wies in seinen Werken immer wieder auf die heilenden und gutartigen Aspekte der Pocken und ihre Ungefährlichkeit hin(83). Was zu dieser Zeit jedoch unter dem Namen "Pocken" oder "Masern" fungierte, war ein Gemisch, in dem sämtliche Ausschlagsfieber der Kinder enthalten sein konnten. Es war Filippo Ingrassia (1510 - 1580) aus Neapel, der erstmals Windpocken und Scharlach unterschied(84).
Im 17. Jahrhundert war es der englische Systematiker Thomas Sydenham(85)
(1624 - 1689), der in den 1660er Jahren eine klare Trennung von
Masern und Pocken vornahm(86). Vor dieser Zeit wurden die Pocken
nach der sogenannten "heissen" Methode behandelt, die
noch auf die Humoralpathologie und arabische Aerzte (v.a. Rhazes)
zurückging. Es wurde angenommen, dass Hitze dazu beitragen
würde, das jedem Menschen angeborene Material, welches die
Pocken verursacht, aus dem Körper zu vertreiben. Die Patienten
wurden zu diesem Zweck mit warmen Kleidern versehen ins Bett gesteckt.
Während der Dauer der Krankheit wurde das Wechseln der Wäsche
untersagt, ebenso das Oeffnen der Fenster. Zusätzlich brannte
häufig noch ein Feuer im Krankenzimmer. Der schwitzende Patient
hatte danach die Möglichkeit, die Krankheit "auszudampfen"
oder zu sterben(87). Sydenham hingegen propagierte in den 1660er
Jahren eine "kalte" Methode, bei der der Patient soviel
als möglich an die frische Luft gehen sollte, kühle
Getränke einzunehmen hatte und nur leichte Bettdecken verwenden
sollte, welche zudem regelmässig zu wechseln waren(88).
In der Medizin des 17. Jahrhunderts setzte sich der im 16. Jahrhundert begonnene Ablösungsprozess von den klassischen antiken und arabisch-mittelalterlichen Personalautoritäten konsequent fort. Die alte Humoraltheorie wurde aufgegeben und weitgehend durch die Annahme von Miasmen ersetzt(89).
Im 18. Jahrhundert, in der Phase des aufgeklärten Absolutismus,
orientierte die erstarkende Staatsgewalt ihr Handeln an den Maximen
der Aufklärung. Sie übernahm nicht mehr nur die Aufgaben
der militärischen Sicherung staatlicher Unabhängigkeit
und die Wahrung des Landesfriedens, sondern sie verstand sich
weitgehend als Dienerin des Volkes, mit dem Ziel, die Bevölkerung
und ihren Wohlstand (damit ebenfalls die staatlichen Steuereinnahmen)
zu vergrössern. Dazu gehörte auch die Sorge um den Gesundheitszustand
des Volkskörpers. Staatliche Massnahmen zu dessen Erhaltung
und Verbesserung wurden eingeleitet. Typisch für solches
Handeln war die Gründung der Berliner Charité als
Staatskrankenhaus im Jahre 1727 auf Anordnung Friedrich Wilhelm
I. Ziel dieser Einrichtung war, wie es der erste ärztliche
Direktor 1730 formulierte, dass den einfachen Leuten Berlins "die
Kranckheit bey der Armuth nicht möchte gar zu unerträglich
fallen, oder dass Krancke aus Dürfftigkeit und Mangel des
Unterhalts, welches in grossen und volckriechen Stätten offtmalen
zu geschehen pfleget, nicht möchten verwahrloset dahinsterben,
da sie doch hätten können erhalten werden."(90)
Die "Erhaltung" diente in der Phase des sich entfaltenden
Manufakturwesens und des Merkantilismus auch der unmittelbaren
ökonomischen Stärkung des Staates durch Gesunderhaltung
der Arbeitskräfte, nach der Ansicht, die sich durchgesetzt
hatte, "dass man nicht nach vergänglichem Silber oder
Golde, sondern nach der Menschenzahl den Reichtum der Staaten
bestimmen müsse."(91) Die Medizin erhielt damit eine
Rolle als Staatsdienerin, als Mehrerin des gemeinen Wohls und
als Erzieherin des Volkes. Zwei zentrale Begriffe dieser Zeit
belegen dies deutlich: "Medicinische Policey"(92) und
"Staatsarzneykunde". Darunter hat man sich ein System
der Gesundheitspflege und der sozialen Fürsorge vorzustellen.
Das 18. Jahrhundert stellte für die Entwicklung des modernen
Krankenhauses eine wichtige Phase dar, da sich in dieser Zeit
der Uebergang vom Hospital des alten Typus zum modernen Krankenhaus
vollzog. Fast gleichzeitig entstanden in Europa Krankenanstalten
des neuen Typs(93), welche vorwiegend von der ärmeren Bevölkerung
in Anspruch genommen wurden.
Massgebend im 18. Jahrhundert war unter anderem die Solidarpathologie,
die im weiteren Sinn den Versuch darstellte, pathologische Veränderungen
des menschlichen Organismus nicht als mechanistische Funktionsstörung,
als humoralistisches Mischungsverhältnis oder als animistisch-vitalistisches(94)
Erregungsphänomen, sondern als organmorphologische Strukturveränderung
zu interpretieren. Voraussetzung für ein solches Denken war
die Individualisierung des Organs, das in allen anderen Konzepten
allenfalls als Schauplatz und Wirkort des übergeordneten
Systems mit seinen physiologischen Abläufen und pathophysiologischen
Veränderungen, nicht aber als ein auch individuell funktionierender,
regelnder und steuernder Teil des Lebensgesamten gesehen wurde.
Tatsächlich ist das Organ als Handlungs- und Manifestationsort,
Sitz und Ursprung von Krankheiten erst mit der zunehmenden Beobachtung
"curioser" Organveränderungen während des
17. Jahrhunderts immer mehr in den Vordergrund des Interesses
getreten, wobei freilich der Säftemischung als übergeordneter
Krankheitsursache noch eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde(95).
Als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der medizinischen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts ist Albrecht von Haller (1708 - 1777) zu nennen. Sein wichtigster Beitrag lag auf dem Gebiet der experimentellen Physiologie. Er führte aber auch die erste Variolation (vgl. Kap. 3.2.) in Bern durch: in der vom 11. Juni 1757 datierten Antwort(96) an Achilles Mieg in Basel berichtet er, dass seine älteste Tochter mit gutem Erfolg geimpft worden sei.
Zu erwähnen ist auch die Grundlegung der klinischen Medizin
in Leiden(97) durch Hermann Boerhaave(98). Er unterschied in seiner
Krankheitslehre zwischen drei Typen krankhafter Erscheinungen:
solche, die sich auf die festen, faserigen Körperbestandteile
erstreckten; solche, die sich vornehmlich an den flüssigen
Körperteilen manifestierten; und solche, die feste und flüssige
Körperteile in ihrer Struktur beeinträchtigten.
Ein weiteres Produkt des 18. Jahrhunderts ist das homöopathische System von Samuel Hahnemann (1755 - 1843), das den Gebrauch kleinster Dosen von Arzneimitteln vorsieht, die bei Anwendung grösserer Mengen die Symptome der Krankheit erzeugen würden. Zusammenfassen lässt sich dieses System folgendermassen: Gleiches wird durch gleiches geheilt(99). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Homöopathie sehr verbreitet und stellte eine Alternative zu den gewagten und oft tödlichen therapeutischen Methoden dar, die in ausgedehntem Aderlass(100), Purgieren, hohen Dosen toxischer Arzneimittel und künstlich erzeugtem Erbrechen bestanden.
Vor allem die Entstehung der wissenschaftlichen Hygiene(101) und der wissenschaftlichen Bakteriologie waren umwälzende Neuerungen auf dem Gebiet der Medizin.
Sowohl die Miasmentheorie wie auch die im 19. Jahrhundert von Jacob Henle wieder aufgegriffene Kontagienlehre (die auf Fracastaro zurückgeht) hatten keine erfolgreichen Rezepte zur Bekämpfung der im 19. Jahrhundert massiv auftretenden Cholera, aber auch des Gelbfiebers und des Typhus zu bieten.
In Frankreich wandte sich in den fünfziger Jahren Louis Pasteur
der Erforschung der Milchsäure- und alkoholischen Gärung
zu und beschrieb diese biochemischen Prozesse als Ergebnisse mikroorganischer
Tätigkeit. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungen gelang
ihm schliesslich der Nachweis, dass Mikroben nur von Mikroben
erzeugt werden und damit nicht Produkt einer Urzeugung sein können.
Diese Forschungen zur Entstehung, Vermehrung und zum Lebenszyklus
der Mikroben sowie die Untersuchungen zur Ursache-Wirkungsbeziehung
zwischen Mikroorganismus, Infektion und Krankheitssymptom lieferten
der Bakteriologie ein wichtiges Fundament. Die Untersuchungen
Robert Kochs in Deutschland über die Ursachen der Milzbranderkrankung
führten 1876 zum Erregernachweis und zur Reinzüchtung
des "Bacillus anthracis". Ein weiterer Höhepunkt
war 1882 mit der Entdeckung der Tuberkelbazillen und 1883 mit
dem Nachweis des Cholerabazillus zu verzeichnen. Auch Pasteur
untersuchte zu diesem Zeitpunkt die Milzbranderkrankung und parallel
dazu die Hühnercholera. Pasteur gab sich jedoch mit der Entdeckung
des Erregers nicht zufrieden, sondern wollte diese Krankheit durch
die Impfmethode Jenners verhüten. 1880 gelang es erstmals,
einen Impfstoff gegen Hühnercholera herzustellen und 1884
wurde eine Vakzine (Impfstoff) zur Immunisierung während
der Inkubationszeit der Tollwut produziert. Mit der Entdeckung
des Cholera- und des Tuberkuloseerregers gelang der Durchbruch
der wissenschaftlichen Bakteriologie endgültig.
Im 19. Jahrhundert begann aber auch die Entwicklung des Spezialismus, der sich nicht mehr nur auf die alten Abteilungen Medizin, Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäkologie beschränkte. Als wichtige Grundvoraussetzung kann dafür die Modernisierung der klassischen Chirurgie und ihre Umwandlung zu einer modernen klinischen Disziplin angesehen werden. Hier waren wiederum drei Faktoren von entscheidender Bedeutung:
die Durchsetzung des lokalistischen, organbezogenen Denkens auch in der Chirurgie
die Ausprägung der Antisepsis (Abtötung von Krankheitserregern) und Asepsis (Keimfreiheit) im Denken und Handeln der Chirurgen
die Erweiterung der chirurgischen Möglichkeiten durch die
Einführung der Anästhesie seit Mitte des 19. Jahrhunderts(102).
Doch auch das ärztliche Berufsbild unterlag einem Wandel im Sinne einer Professionalisierung und einer Verbesserung der sozialen Stellung der Aerzte. Dieser berufliche und soziale Aufstieg ist begründet durch die steigende Akzeptanz ärztlichen Handelns und wird zusätzlich durch die Bildung eines Einheitsstandes(103) noch gefördert.
Allgemein gesprochen hängt das Entstehen einer Infektionskrankheit von drei Faktoren ab:
von den Erregern
vom Organismus
von der Möglichkeit, dass die Erreger den Organismus infizieren
können(104)
Am einfachsten zur Bekämpfung einer Infektionskrankheit scheint der dritte Punkt zu sein: sind die Bedingungen für eine Uebertragung der Erreger auf den Organismus nicht gegeben, ist jeder Erreger ungefährlich. Hier setzten auch die frühen wirksamen Bekämpfungsmassnahmen gegen Seuchen an mit den Mitteln der Quarantäne, dem Meiden von Berührungskontakten mit Erkrankten, durch Sitten und Bräuche(105) und spezieller Schutzkleidung wie sie etwa die Pestdoktoren trugen. Zu erwähnen ist, dass - obwohl Infektionsmodus und Uebertragungswege der verschiedenen Krankheiten noch in keiner Art und Weise bekannt waren - die Menschen lernten, Infektionsgefahren zu verringern. Der Gedanke der Quarantäne ist beispielsweise schon im Jahr 1346 nachweisbar und stammt aus denjenigen Stellen der Bibel, die den Bann gegen Aussätzige vorschreiben. Indem der Pestkranke behandelt wurde, als sei er vorübergehend aussätzig - vierzig Tage Quarantäne wurden schliesslich zur Norm - fanden diejenigen, die gesund blieben, eine öffentlich anerkannte Möglichkeit, ihre Furcht und Abscheu vor der Krankheit zum Ausdruck zu bringen(106).
Abb. 2: Arzt in Schutzkleidung gegen die Pest. Kolorierter Kupferstich um 1725. "Vorstellung des Doct: Chicogneau Lantzlers der Universitaet zu Montpel. der, welcher A. 1720 vom Könige in Franckreich nach Marseille geschicket worden, um denen mit der behafteten Leuten beyzustehen. Er trug daselbst ein langes Kleid von CorduanLeder, mit einer Masque, die Augen von Crystall hatte; und deren lange Nase mit wolrichenden Sachen wieder das Gift angefüllet war. Dabey er einen Stab in der Hand führente, womit er auf die Leiber, der von der Pest angesteckten Personen Deutente, wenn er sagte was man zu deren Genesung thun sollte."
Auf diese Weise konnte, wenn auch nicht immer, die Krankheit auf einige lokale Herde beschränkt werden. Die Bedingungen für die Uebertragung der Erreger werden jedoch durch die Verhältnisse und die äusseren Umstände ständig verändert. So forderten die mit Kriegen auftretenden Seuchen bis weit ins 19. Jahrhundert oft in ungleich grösserem Ausmass als die eigentlichen Kämpfe das Leben der Soldaten(107). Auch Hungersnöte konnten zum Ueberhandnehmen und zur wachsenden Virulenz von Infektionskrankheiten beitragen. Ein weiterer wichtiger Punkt für die schnelle und gründliche Verbreitung und Uebertragung von Infektionskrankheiten war auch das Entstehen und Wachsen der Städte, also die Ansammlung grosser Menschenmengen auf kleinem Raum und den damit einhergehenden Problemen der Verschmutzung des städtischen Raumes durch Abfall, Schmutz, Misthaufen, Fäkalien, Urin etc. und dem gleichzeitigen Fehlen einer Schwemmkanalisation. Dieses Fehlen einer Kanalisation und der Widerstand gegen deren Einführung hatte zu einem gutem Teil auch mit dem Glauben an den therapeutischen Wert der Exkremente(108) einen Zusammenhang. So pflegte man in Madrid Fäkalstoffe auf die Strasse zu schütten, dabei waren die Aerzte der Ueberzeugung, dass der über mehrere Kilometer verbreitete Gestank dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen würde. Ohne die Gerüche der Kloakenentleerung, wurde argumentiert, "wäre die Pest auch bei uns nicht mehr fern"(109). In London veranlassten die Behörden das Oeffnen aller Senkgruben, um die Pest durch Gestänker zu bezwingen(110). Noch 1835 wird der therapeutische Wert des Unflats von Parent-Duchâtelet(111) gerühmt, der seiner Ansicht nach auch die gute Gesundheit der Darmsaitenmacher und der Kanalreiniger zu erklären vermag.
Dass solche Methoden - man denke noch an das Ungeziefer in Form
von kriechenden und fliegenden Insekten sowie Ratten und Mäusen,
das durch die Fäkalien angelockt wurde und beste Lebensgrundlagen
vorfand - mehr als kontraproduktiv waren, ist wohl heute leicht
einzusehen. Weiter ist zu bedenken, dass sobald eine Population
eine bestimmte Grösse erreicht hat, eine schnellere Uebertragung
von Infektionskrankheiten stattfindet, und dass vor allem die
Ausbreitung von Erkrankungen, welche durch die sogenannte "Tröpfcheninfektion"
(oder aerogener Infekt) übertragen wird, nicht verhindert
werden kann(112). Dabei hat man sich vorzustellen, dass beim Sprechen,
Niesen, Husten und Rufen feinste Speicheltröpfchen entstehen
und mit der Atemluft versprüht werden. Die sichtbaren, grösseren
Tropfen fallen zu Boden und übertragen nur selten eine Infektion.
Problematischer sind die allerkleinsten Tröpfchen. Solange
die Luft nicht mit Feuchtigkeit gesättigt ist, verdunsten
sie beinahe unverzüglich. Nach der Verdunstung bleiben einige
Bestandteile zurück: eine winzig kleine Eiweissflocke mit
allen im verdunsteten Tröpfchen enthaltenen Bakterien oder
Viren. Bei ruhiger Luft können die Flocken stundenlang schweben
und beim geringsten Luftzug zerstieben sie in alle Richtungen.
Auf diese Art können Infektionen sogar über mehrere
hundert Meter übertragen werden. Aufgenommen werden die herumschwebenden
Viren und Bakterien dann durch die Atmung.
Seuchen entstehen grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen:
durch eine Kollektivinfektion grösserer Bevölkerungskreise
durch die Uebertragung der Krankheit von Mensch zu Mensch, bzw. bei den sogenannten Zoonosen - den sowohl für Tiere als auch für Menschen gefährlichen Krankheiten - von Tier zu Mensch.
Eine Kollektivinfektion ist möglich bei den Krankheiten, die durch Insekten übertragen werden. Die Gefahr einer Seuchenbildung besteht aber auch bei infiziertem Trinkwasser(113) und bei infizierten Lebensmitteln.
Der zweite Weg der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die
Ansteckung von Mensch zu Mensch, bzw. von Mensch zu Tier, erfolgt
in einer Art Kettenreaktion durch Kontaktinfektion, Tröpfcheninfektion
und Stäubcheninfektion und hängt eng mit der Populationsdichte
und -grösse zusammen. Einen nicht unwesentlichen Einfluss
auf die Verbreitung von Infektionskrankheiten üben auch soziale
Faktoren aus, sei dies in Form von religiösen Festen, Märkten
etc. die zu einer Menschenballung auf kleinstem Raum führen.
Eine gegenteilige Wirkung, also eine erhöhte Immobilität
der Bevölkerung, kann beispielsweise durch klimatische Faktoren
und die Jahreszeit verursacht werden. Dadurch kommt es zur Verhinderung
sozialer Kontakte, mit der Folge, dass die Ansteckungskette unterbrochen
werden kann.
Der zu Beginn diese Kapitels erwähnte zweite Punkt kann auch
als Disposition, als "Erkrankungsbereitschaft" des Organismus
bezeichnet werden. Die Disposition unterliegt wiederum einer Vielzahl
von Faktoren. Dabei kann es sich um das Lebensalter, das Geschlecht,
das soziale Milieu (Wohn- und Arbeitsverhältnisse), die körperliche
Konstitution, das Klima, die Ernährungssituation, Stress,
seelische Erschütterungszustände, Schrecken, Erregung
etc. handeln.
Auf die Anfangs aufgeführten drei Punkte (Erreger, Organismus, Möglichkeit eines Erregers zur Infektion des Organismus) vermochte der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten lediglich auf den dritten und unter Umständen noch auf den zweiten Einfluss zu nehmen. Machtlos stand er hingegen den Erregern der Krankheiten gegenüber. Doch auch diese besitzen und besassen nicht homogene Eigenschaften: einerseits ist es ihre Fähigkeit, den Organismus zu infizieren, ihre Infektiosität, und andererseits die Fähigkeit, im infizierten Organismus die betreffende Krankheit auszulösen, die sogenannte Pathogenität(114). Es gibt Erreger, die äusserst infektiös sind, jedoch nur eine verhältnismässig geringe Pathogenität besitzen, wie z. B. die Masernviren. Umgekehrt finden sich sehr pathogene Erreger mit geringer Infektiosität, wie etwa die Lepraviren. Neben den Begriffen der Pathogenität und der Infektiosität wird auch noch derjenige der Virulenz verwendet, unter dem man die "jeweils gerade vorhandene Pathogenität"(115) der Erreger versteht. Das heisst, dass nicht zu jeder Zeit und unter allen Bedingungen die Krankheitserreger gleichmässig pathogen sind, sie sind verschieden virulent, wobei der Grad ihrer Virulenz für das Entstehen einer Infektionskrankheit von Bedeutung ist.
Epidemien sind nur in seltenen Fällen auf das Ueberhandnehmen
ungewöhnlich virulenter Erreger zurückzuführen(116).
Meist trifft ein Erreger plötzlich - bedingt durch verschiedenste
Möglichkeiten - auf eine "unberührte" Bevölkerung,
die bis dahin oder über längere Zeiträume hinweg
keinen Kontakt mit diesem Erreger hatte. Dadurch wird auch der
grösste Teil der Menschen keine Immunität ausgebildet
haben, und es existieren genügend Personen, um die Verbreitung
der Infektion sicherzustellen und die Ansteckungskette nicht abbrechen
zu lassen. Solche erstmalig oder nach längerer Zeit auftretenden
Epidemien unterscheiden sich vom Wiederaufflackern endemischer
Erkrankungen grundsätzlich dadurch, dass zu einem grossen
Teil auch nicht gefeite Erwachsene ergriffen werden(117).
"Neue" Infektionen innerhalb einer grossen Bevölkerungsgruppe
ziehen alle Altersstufen in Mitleidenschaft, wobei Mortalitätsgipfel
in der Regel im Kleinkind- und Greisenalter zu finden sind. Mit
zunehmender Verweildauer der Krankheit in der Gesellschaft verändert
sich das Bild, Krankheits- und Todesfälle konzentrieren sich
auf das Säuglings- und Kindesalter. Ein Kennzeichen solcher
endemischer Krankheiten ist die regelmässigere Verteilung
der Erkrankungsfälle über bestimmte Zeiträume hinweg.
Kinderkrankheiten treten vorwiegend in Epidemien gehäuft
und nach zwischenzeitlichen Intervallen auf, in denen die Infektion
seltener vorkommt oder eventuell sogar ganz ausbleiben kann(118).
Für beinahe jede endemische Erkrankung kann ein mehr oder
weniger zeitlich gleichförmiger Kurvenverlauf festgestellt
werden, bei dem die Gipfel Epidemiezeiten darstellen. Am Höhepunkt
einer Epidemie ist die Zahl potentieller Infektionsquellen gross
und die Ansteckungswahrscheinlichkeit für alle empfänglichen
Individuen sehr hoch. Sobald jedoch die Mehrzahl von ihnen erfasst
worden ist, fällt die Epidemie sehr rasch in sich zusammen,
die Ansteckungskette wird in Ermangelung an Nachschub von infektionsfähigen
Personen zusammenbrechen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist
folglich nicht nur eine Funktion des Prozentsatzes von Infektionsquellen,
sondern auch der Zahl anfälliger Personen. In Gegenwart vieler
Keimträger wird eine Epidemie auch in einem kleinen Personenkreis
viele Individuen erfassen; deren Chance, von der Infektion verschont
zu bleiben, sind dagegen bei minimaler Ansteckungsgefahr unverhältnismässig
grösser. Abb. 3 zeigt den Weg einer Infektion von Mensch
zu Mensch in verschiedenen Stadien einer konstruierten Epidemie,
die zudem in einer Population ohne Immunitätsschutz ausbricht.
Die Inkubationszeit soll eine Woche dauern. Im Schema sind drei
Perioden zu je vier Wochen enthalten. Weiter wird angenommen,
dass die Infektion eine Immunität hinterlässt. In den
Kästchen unter dem Verlaufsbild ist das Verhältnis von
anfälligen zu immunen Personen dargestellt. Im ersten Monat,
gegen Ende der ersten Periode, gehen zehn Neuerkrankungen auf
das Konto eines Infektionsfalles. Am Höhepunkt der Epidemie
haben viele Erkrankte schon gar keine Möglichkeit mehr, ihre
Infektion weiterzureichen, doch die Zahl der Erkrankungsfälle
bleibt bis zum Ausgang dieser Phase noch gleich hoch. Gegen das
Ende der Epidemie hin können nur noch wenige Wege weitergeführt
werde, da die meisten Kontaktpersonen bereits immun sind. Bei
Epidemien von Krankheiten wie Masern und Influenza (Grippe), wo
die Kontagiosität der erkrankten Personen auf wenige Tage
beschränkt bleibt, verschwindet die Krankheit aus einer
Gemeinschaft, sobald die Zahl der gefährdeten Individuen
auf einen bestimmten Stand abgesunken ist(119).
Grafik 3, aus Designer
Abb. 3: Ein Diagramm zur Verlaufsdarstellung einer typischen Epidemie. Die Kreise bedeuten einen Infektionsfall und die Verbindungslinien seine Uebertragung auf das nächste Individuum. Die weissen Kreise veranschaulichen jene infizierten Personen, die den Erreger nicht mehr weitergeben.
Epidemien herrschen nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig, sondern Wandern vielmehr durch die Orte eines Landes oder Kontinentes. So kann es vorkommen, dass, wenn sie wieder am ursprünglichen Ort angelangt sind, eine neue Population anfälliger Individuen nachgewachsen ist. Dadurch kann der Prozess wieder von vorne beginnen. Es können also wellenförmige Intensitätsschwankungen endemischer Krankheiten hin zu Epidemien festgestellt werden. Dabei sind die Determinanten festzustellen, welche das Ausmass einer Epidemie bestimmen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist zweifellos die Zahl der nichtimmunen Personen zu Beginn einer Epidemie. Es kann jedoch, wie bspw. bei der Diphterie, auch damit zusammenhängen, dass der Erreger, verglichen mit dem der vorhergehenden Epidemie, eine ungleich höhere Virulenz aufweist.
Festzuhalten ist, dass durch einen virulenteren Typ eines bereits endemischen Erregers verursachte Epidemien keine wesentlich andere Altersverteilung zeigen als frühere Epidemien(120).
Für eine Infektionskrankheit, die zum ersten Mal in einer Bevölkerung ausbricht, gilt folgendes: der höchste Anteil an latenten oder nur leicht verlaufenden Fällen liegt in der Altersgruppe der Zwei- bis Fünfzehnjährigen(121). Kleinkinder und ältere Leute sind in der Regel schwerer betroffen. Viele, wenn nicht sogar alle Infektionserkrankungen haben zudem einen zweiten Gipfel unter den jüngeren Erwachsenen (15. bis 35. Lebensjahr) zu verzeichnen(122).
Endemische Krankheiten überwiegen hingegen vornehmlich im frühen Kindesalter. Je ansteckender eine Infektion ist, desto niedriger wird das Lebensalter der maximalen Inzidenz, der einschneidensten Wirkung des Erregers sein. Umgekehrt ist der Schluss zulässig, dass ein Erreger einer Erkrankung mit einem Maximum im Kleinkindesalter innerhalb einer Population ubiquitär, allgegenwärtig, vorkommen muss.
Wie lässt sich die unterschiedliche Anfälligkeit von Kindern und Erwachsenen gegen Infektionserkrankungen deuten?
Aus physiologischer Sicht können signifikante Unterschiede
zwischen den Abwehrreaktionen des kindlichen und des erwachsenen
Organismus gesucht werden. Burnet beantwortet diese Frage dahingehend,
dass Säuglinge auf Allgemeininfektionen zu wenig reagieren,
Erwachsene hingegen zu heftig, was dem Gewebe in der Auseinandersetzung
mit dem Erreger mehr schadet als nützt(123). Lediglich beim
Kind ist das Verhältnis zwischen Reiz (durch Mikroorganismen)
und Reizbeantwortung (durch Reaktionen des Körpers) am ausgeglichensten.
Eine von der Evolution hergeleitete Erklärung beruht
auf der Annahme, dass sich die Entwicklung des Menschen in einer
von Infektionen erfüllten Umwelt vollzog, und die Verfassung
des heutigen Menschen durch verschiedene Selektionsprozesse nunmehr
den bestmöglichen Kompromiss im Kampf gegen Infektionen darstelle.
Wenn auch ein stark vereinfachtes Bild gezeichnet wird und Erfahrungen einzelner oder kleinerer Gruppen dabei nicht berücksichtigt werden, eignet sich die Beschreibung eines Evolutionsprozesses während des menschlichen Lebens besser als ein Versuch einer Detailschilderung. Es lassen sich fünf Abschnitte erkennen:
denjenigen des Säuglings, welcher auf die Antikörper mütterlicherseits und eine keimfreie Ernährung angewiesen ist.
den des Kindes mit seiner hohen Infektanfälligkeit, seiner häufig wirkungsvollen und raschen Infektabwehr und der damit verbundenen lebenslänglich anhaltenden Immunität.
den des Jugendlichen, welcher von Infektionen weniger leicht betroffen wird und lokale Keiminvasionen rasch überwindet, jedoch beim Fehlen der Basisimmunität besonders durch eigene heftige Reaktionen auf Allgemeininfekte gefährdet ist.
der Abschnitt, in dem die übermässige Reizbeantwortung nachlässt, die Immunität hingegen anhält und akute Infektionsbilder wesentlich seltener zu sehen sind.
schliesslich im Abschnitt des Alters die Periode der allmählichen Abnahme aller Körperfunktionen und der steigenden Anfälligkeit gegen unspezifische Infekte der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes(124).
Die Erreger von Infektionskrankheiten beschränken sich beinahe ausschliesslich auf die drei grossen Gruppen Bakterien, Protozoen und Viren(125). Bakterien gehören zu den Verursachern von Krankheiten wie Typhus, Ruhr, Lepra, Syphilis und Wundbrand. Die durch Protozoen verursachten Krankheiten sind in den gemässigten Zonen kaum anzutreffen. Hingegen finden sich in den Tropen und den Subtropen Krankheiten von grosser Tragweite, welche durch Protozoen übertragen werden. Die am weitesten verbreitete Infektion ist die Malaria, nebst der Amöbenruhr, der Schlafkrankheit und der Kala Azar(126).
In den 1880er Jahren, als Pasteur und Koch die Grundlagen für
die Bakteriologie legten, wurden alle möglichen Erkrankungen
untersucht, hinter denen Mikroorganismen als Verursacher vermutet
wurden. Gefunden wurden dabei fast immer Bakterien; die Ursache
von Milzbrand, Dyptherie und Typhus konnte damit aufgedeckt werden.
Es wurden auch Bakterien bei Masern-, Influenza- und Pockenfällen
isoliert, bei denen sich aber kein Zusammenhang mit der Erkrankung
ergab. Allmählich stellte sich heraus, dass neben den Bakterien
und Protozoen noch andere, kleinere Krankheitserreger existieren
mussten. Jedoch erst um 1930 erlaubte die Entwicklung neuer Techniken
die Isolierung und Charakterisierung einer grossen Anzahl von
Viren als Erreger ernsthafter Erkrankungen.
Viren werden als Mikroorganismen (oder krankheitserzeugende, sich
selbst reziplierende Agenzien) definiert, die sich nur innerhalb
geeigneter lebender Zellen vermehren können. Sie bestehen
aus Eiweiss sowie dem einen oder anderen Standardtyp von Nukleinsäuren,
entweder RNS (Ribonukliensäure) oder DNS (Desoxyribonukliensäure)(127).
Diese Nukleinsäuren gelten als Schlüsselmoleküle,
als Träger jener Informationen, die es einer Zelle oder einem
Virus gestatten, sich identisch zu reproduzieren. In den Chromosomen
jeder Zelle befinden sich die DNS, die aus langfädigen, fadenförmigen
Molekülen bestehen und die als Informationsträger fungieren.
Die RNS hat eine ähnliche, jedoch einfachere Struktur und
Funktion. Sie entstehen im Zellkern nach der von den DNS gegebenen
Informationen und steuern die Eiweisssynthese. Die Reproduktion
lebender Substanz vollzieht sich in Zusammenarbeit von DNS und
RNS, ohne die jede Form von Fortpflanzung unmöglich wäre.
Lediglich Viren besitzen entweder DNS oder RNS, niemals aber beide
Säuretypen zugleich(128).Da sich Viren also nur in lebenden
Zellen vermehren können, ist auch verständlich, wieso
es den Bakteriologen des letzten Jahrhunderts nicht gelang, diese
auf den zur Bakterienzüchtung geeigneten Nährböden
wachsen zu lassen.
Etwa 90% der Viren lassen sich in sechs Obergruppen - eingeteilt nach ihrer Grösse - zusammenfassen:
Picornaviren: es handelt sich dabei um die kleinsten bekannten Viren, zu denen die Erreger der Polioerkrankung, der Maul- und Klauenseuche und des Schnupfen gehören.
Arborviren: Die nächstgrösseren Viren gehören unter anderem zu den Verursachern von Gelbfieber und Dengue.
Myxoviren: Sie zählen zu den verschiedenen Erregern der Influenza und des Mumps.
Adenoviren: Rufen Infektionen in Rachen, Augen und Respirationstrakt hervor.
Herpesviren: Sie verursachen Herpes simplex (Erkältungsbläschen der Lippen), Gürtelrose und Windpocken.
Pockenviren: Zu dieser Gruppe gehören die Erreger der Pocken
selbst (variola major, variola minor(129)), aber auch das ihnen
nahe verwandte Vakzinia-Virus, welches bei der Pockenschutzimpfung
verwendet wird.
Im übrigen erweist sich jeder grössere Organismus gegen Virenbefall empfindlich, ja es können sogar Bakterien selbst an einer Virusinfektion erkranken(130). Pflanzen, Tiere und Menschen leiden an den verschiedensten virusbedingten Plagen: Schafpocken, Kuhpocken, Pferdepocken, Schweinefieber, Rinderpest, Hundestaupe, südafrikanische Pferdekrankheit, Psittakose (Papageienkrankheit); Pocken, Gelbfieber, Herpes, Schnupfen etc., diese Viruserkrankungen bilden eine fast endlose Liste. Unterteilt werden die menschlichen Virusinfekte nach Burnet(131) folgendermassen:
Allgemeininfektionen: Der Virus gelangt in den Blutkreislauf und befällt auf diese Art den gesamten Organismus ohne aber bevorzugte Organmanifestationen aufzuweisen, wenngleich Hautsymptome dabei in irgendeiner Form auftreten können. Dazu gehören Pocken, Masern, Röteln, Windpocken, Gelbfieber, Dengue etc.
Erkrankungen, die sich auf ein bestimmtes Organ oder Organsystem
beschränken. Die bedeutendste Einzelinfektion des Respirationstraktes
ist nach wie vor die Influenza. Der Verdauungstrakt, im speziellen
der Darmkanal, ist ebenfalls Angriffspunkt einer anderen grossen
Virusgruppe, der sogenannten Enteroviren. Zu den lokalen Infektionen
der Haut und der Konjunktiven (der inneren Auskleidung des Augenlides)
zählen Herpes, Warzen, Trachom etc. Mumps befällt die
Speicheldrüsen und Erreger wie die Polioviren machen sich
im wesentlichen durch eine Schädigung des Zentralnervensystems
bemerkbar.
Da Viren nur innerhalb lebender Zellen von bestimmten Organismen gedeihen können, dürften die gegenwärtigen Formen keine längere Entwicklungsgeschichte aufweisen als ihre Wirte. Aufgrund dieser Annahme zeichnen sich drei Möglichkeiten ab.
Die erste beruht auf der Vorstellung, dass sich die Viren direkt von primitiven subzellularen Wesen ableiten, die schon auf den frühesten zellularen Organismen schmarotzten. Mit fortschreitender Evolution der tierischen Lebewesen entwickelten sich auch die Viren weiter und adaptierten ihr Parasitentum fortwährend an die jeweilige Lebensform, indem sie sich immer wieder geringfügig änderten, ohne dabei jedoch eine unabhängige Lebensform zu erlangen.
Die zweite Möglichkeit geht davon aus, dass die Viren von pathogenen Bakterien abstammen, die irgendwann einer unterschiedlich starken Degeneration verfielen. Diese beiden Thesen halten das Virus implizit für einen autonomen Organismus und folglich für das Ergebnis von Reproduktion, Variation und Selektion, wie sie von anderen Organismen bekannt ist.
Die dritte Ansicht sieht vor allem in den kleineren Viren Bruchstücke von Zellen, bei denen sie nun schmarotzen. Diese These ist jedoch nicht sehr plausibel, da die Möglichkeit einer spontanen Virusentstehung ausgeschlossen werden kann(132). Meist wird jener Theorie der Vorzug gegeben, nach der Viren reduzierte Abkömmlinge pathogener Bakterien oder Protozoen sind.
Wird das Gewebe eines Körpers von Mikroorganismen befallen, treten drei mögliche Folgen ein. Entweder können sich die Keime ungehindert vermehren und zum Tod des Wirtes führen. Oder sie können sich im Gewebe ansiedeln und dort für unbegrenzte Zeit verbleiben. Schliesslich kann das Eindringen der Erreger eine Reaktion im Gewebe auslösen, mit der es gelingt, die Infektion völlig zu überwinden und alle Keime zu vernichten oder aus demselben zu eliminieren.
Bei schweren Infektionen gelangen Mikroorganismen ins Blut und überschwemmen den Körper und zwingen ihn dadurch zu verschiedensten Reaktionen. Als konstante Symptome bei Infektionen treten - je nach Schweregrad und Organbefall - unterschiedlich hohes Fieber und Kopfschmerzen auf. Dazu können sich noch Hautausschläge, Blutungen, Kopfschmerzen, Bewusstseinstrübung oder Bewusstseinsverlust einstellen. Zudem bewirken beinahe alle ernsthaften Infektionen, wenn sie nicht zum Tod führen, nach einigen Tagen eine Umstellung des Organismus, die mit der Entwicklung einer Immunität gekoppelt ist(133). Diese Immunität, welche nach Ablauf der Krankheit in Erscheinung tritt, schützt das Individuum während einer bestimmten Zeitspanne, entweder für einige Monate oder sogar für das ganze Leben, vor der entsprechenden Erkrankung. Wer von den Pocken oder Masern, Diphterie oder Keuchhusten, Tularämie oder Gelbfieber genesen ist, ist für längere Zeit, häufig sogar bis ans Lebensende, vor der entsprechenden Krankheit geschützt. Auch einmal überstandene Cholera, Typhus und Fleckfieber verleihen eine lange Immunität und bei eventuell noch auftretenden "Zweiterkrankungen" ist deren Verlauf sehr mild. Bei Infektionskrankheiten wie der Pest und der Grippe ist die erworbene Immunität jedoch nur von sehr kurzer Dauer. Bei Geschlechtskrankheiten(134) und Wundinfektionen wird keine Immunität erworben, der Mensch kann immer wieder von ihnen betroffen werden(135). Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Primärinfektion zunächst nur eine Basisimmunität auslöst, welche von Zeit zu Zeit einer Auffrischung durch Reinfekte bedarf, um ihre Wirkung nicht zu verlieren. Um eine Immunität zu erlangen, muss die Infektionskrankheit jedoch nicht unbedingt einen schweren, lebensgefährlichen Verlauf nehmen. Auch das Durchlaufen einer "harmlosen" Form der Krankheit führt zur Erwerbung einer Immunität.
Die Krankheit Pocken fand unter vielen verschiedenen Bezeichnungen Eingang in Chroniken, Berichte, Tabellen und Register. Der geläufigste Begriff war "Blattern"(136) (oder in verwandter Form "schwarze Blattern", "Kindsblattern", "Kinderblatteren", "kindtsflecken", "kinderenpocken", "kindsbletteren", "rechte Blattern" "aechte Blattern"), da sich im Eruptionsstadium der Krankheit am ganzen Körper Blattern, Bläschen und Pusteln bilden, welche nach dem Abfallen dauerhafte Narben zurücklassen. Nach Schlotter(137) bedeutet Blattern auch Blase. Der Begriff "Blattern" wurde ursprünglich ebenfalls für die Syphilis(138) verwendet. Erst ab Ende des 17. Jahrhunderts sollen ausschliesslich die Pocken als "Blattern" bezeichnet worden sein.
Als Synonyme für Pocken kommen in Quellen auch folgende Begriffe zur Anwendung(139):
"Durchschlacht": Synonym zu Blattern und Variola. Mit Durchschlacht konnten jedoch auch die falschen Blattern (d.h. Windpocken) oder Exantheme (Hautausschläge) bezeichnet werden. "Urschlacht" war identisch mit den Pocken.
"Kindliweh": Konvulsionen und Krämpfe, Epilepsie bei Kindern. Wohl auch allgemein für häufige Kinderkrankheiten (z. B. Pocken) verwendeter Begriff.
"Variolae": auch "Variola", identischer Begriff für Pocken oder Blattern.
"Morbilli": Masern, eine mit den Pocken verwandte und zum Teil auch verwechselte Krankheit.
"Rottensucht": auch "Rotsucht", es könnte sich dabei sowohl um Masern wie Röteln oder auch Scharlach handeln.
Es handelt sich um einen Auszug aus einem Brief des Kreisphysikus Hempel(140) in Crossen an das Kgl. Impfinstitut Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieser Bericht vermag auf sehr eindringliche Art und Weise die Furcht vor den Pocken zu erklären, wenn man die Beschreibung der schrecklichen Qualen und die körperlichen Entstellungen, die diese Krankheit mit sich bringt, vor Augen hat:
"Nachdem im Jahr 1796, und zwar in den Monaten April, Mai, Juni sich die natürlichen Menschenblattern gutartig gezeigt hatten, so wurde bei der Hitze des Julius die Epidemie bösartiger und erreichte im Monat August den höchsten Grad der Bösartigkeit. Die Blattern, welche beim Ausbruch der Epidemie mit einem leichten Entzündungsfieber begleitet wurden, zeigten sich nun in Verbindung mit einem sogenannten faulichten Nervenfieber, als Aasblattern. Hervorstechend war nicht nur die Disposition der Säfte zur Fäulniss, sondern der Uebergang zur Fäulniss erfolgte oft in unglaublich kurzer Zeit.
Die Blatternkranken beklagten sich oft nur einige Tage vor dem Ausbruche der Krankheit über Müdigkeit der Glieder, Mangel des Appetits, Kopfweh, dann bekamen sie gewöhnlich anfangs ein grasgrün gallichtes Erbrechen, nicht selten auch dergleichen Stuhlausleerungen(141). Gleichzeitig befiel die Kranken ein heftiges Fieber, zu welchem sich schon in den ersten Tagen eine entsetzliche Unruhe einstellte, der bald Irrereden folgte. Auf der Fläche des Körpers zeigten sich irregulaire Blattern von der Grösse der Hirsekörner, gewöhnlich ward in der Folge der grösste Theil des Körpers damit bedeckt. Die Blattern, die ein wiedriges bläuliches, beinahe bleistiftfarbiges Aussehen hatten, erhoben sich nur wenig, fielen nach ihrem Ausbruch wieder ein, bekamen Gruben, liefen zusammen und enthielten bald eine wässrichte Feuchtigkeit, bald eine blutige Jauche. Im höheren Grad der Krankheit sahen die Blattern schwarzblau aus und zeigten sich als sogenannte Aasblattern. Dann erhoben sich hin und wieder Brandblasen, die bei der Unruhe der Kranken aufplatzten und den Körper mit blutiger Jauche beschmutzten. Es floss nicht selten aus Mund und Nase aufgelösstes Blut, man sah mehrmalen den Harn mit Blut gefärbt und folgten blutige, stinkende Stuhlausleerungen. Die Zunge glich einer Kohle.
Die Ausdünstungen und Ausleerungen der Kranken verbreiteten einen entsetzlichen Gestank und deuteten auf den Uebergang der Säfte in Fäulniss. Das Bewusstsein fehlte, deliria suavia traten ein, subsultus tend. Croccigysmus, Knirschen mit den Zähnen, wodurch oft Geschirre zerbissen wurden und welches herzzerschneidend war, stellten sich ein. Die Blatternkranken gingen beinahe bei lebendigem Leib in Verwesung über. Kaum konnte man bei dem Anblick solcher scheusslicher Gestalten die menschliche Bildung wiedererkennen. Ohngeachtet der Erneuerung der Luft, ohngeachtet der besten Räucherungen war man bei der fortdauernden Entwicklung faulichter Partikel kaum im Stande, diese verpestete Luft zu reinigen und den widrigen Eindruck derselben auf die in den Zimmern befindlichen Personen zu schwächen.
Die Krankenwärter bekamen häufig Kopfweh, Uebelkeiten, verloren Appetit und erbrachen sich nicht selten. In den Fällen der höchsten Bösartigkeit halfen weder erregende, krampfstillende, noch stärkende Mittel; vergebens wurden infus. rad. valerianae, serpentariae, flor. arnicae, der Camphor, Aether, die China, das Acid. sulphuricum dillutum gegeben, vergeblich wurde der Wein gereicht und ohne Erfolg wurden die Reizpflaster angewendet. Der unerbittliche, zuletzt oft erbetene Tod, machte dieser schrecklichen Scene und mit ihr das Leiden der unglücklichen Opfer ein Ende.
Bei den meisten Kranken sah man schon bei dem ersten Besuche den traurigsten Ausgang vorher, und konnte leider denselben, ohnerachtet der Anwendung der wirksamsten Mittel, nicht verhüten. So sah ich z.B. unter anderen Kranken einen sechsjährigen Knaben, dem die Eltern aus Einfalt kurz vor Ausbruch der Krankheit ein Abführungsmittel aus Senseblättern und Glaubersalz gegeben hatten, die Säfte in kurzer Zeit in Fäulnis übergehen. Am dritten Tag der Krankheit, an welchem ich zugezogen wurde, enthielten die Blattern mehr oder weniger blutige Jauche. Die Blattern waren zusammen gelaufen und sahen bläulich schwarz aus. Der Anblick war schrecklich, der Kleine phantasierte still, hatte abwechselnd Krämpfungen, knirschte fürchterlich mit den Zähnen und zerbiss die mit Getränken angefüllten Gläser oder Schalen, sodass ich ihm dasselbe im hölzernen Becher reichen liess. Schon am 4. Tage floss aus Mund und Nase blutige Jauche, die dünnen übelriechenden Stuhlausleerungen waren mit Blut gemischt und so ging auch der Harn unwillkürlich ab. Die Spitzen der Finger und Zehen wurden nach und nach brandigt, sahen kohlschwarz aus und glichen Kohlstrünken, der Brand schritt rasch vorwärts. Es zeigten sich hin und wieder am Halse, auf der Brust, an den Armen und Füssen brandigte Streifen 2 bis 4 Zoll lang und 1/2 Zoll breit. An mehreren Stellen des Körpers erhob sich die Oberhaut, es bildeten sich Brandblasen von der Grösse einer welschen Nuss, aus welchen beim Aufplatzen eine blutige, übelriechende Jauche floss. Nie sah ich ein so schreckliches Pockenkind, welches bei lebendigem Leibe zur Hälfte beinahe in Fäulniss übergegangen war, und demohnergeachtet noch eine Zeitlang lebte. So oft man nach einigen Stunden den kleinen Kranken wiedersah, so oft konnte man das Fortschreiten des Brandes bemerken. Der Kranke lag mit zusammengebissenen Zähnen, schwer war die Anwendung der Arzneimittel, von dessen Gebrauch leider kein guter Erfolg vorherzusehen war, und am 4. Tage nach dem ersten Ausbruch der Blattern machte der Tod dieser traurigen Scene ein Ende."
Bei den Pocken handelt es sich um eine schwere, febrile und ansteckende Viruserkrankung, die einhergeht mit einem charakteristischen pustulösen Hautausschlag. Die Eintrittspforte für das Virus ist meist der Respirationstrakt, die Infektion kann direkt aerogen, durch Tröpfcheninfektion, erfolgen. Ebenfalls möglich ist die Uebertragung der Krankheit durch kontaminierte Gegenstände und Kleidungsstücke. Die Inkubationszeit beträgt zwischen 10 und 14 Tagen.
In der ersten Phase der ausgebrochenen Krankheit steigt die Körpertemperatur
plötzlich und schnell an in Bereiche zwischen 38,5 °C
und 40,5 °C (vgl. Grafik 1). Dabei sind Symptome zu verzeichnen
wie das schon erwähnte Fieber, Kopfschmerzen, Frösteln,
Rückenschmerzen und Erbrechen, zum Teil verfällt der
Patient auch in ein Delirium. Gelegentlich tritt ebenfalls ein
unspezifischer, vorübergehender Hautausschlag auf. Nach zwei
bis vier Tagen verschwinden diese Symptome und der Kranke scheint
zu genesen. Ab dem vierten Tag nach dem Ende der Inkubationszeit
tritt ein fleckiger Hautausschlag auf, der sich danach zu den
charakteristischen Pusteln und Blasen entwickelt, die zunächst
mit klarer Flüssigkeit gefüllt sind, bald jedoch eintrüben
oder sich zu einem blutigen Sud wandeln.
Grafik 1 Verlauf der Pocken
Der Ausschlag kann je nach Typ am ganzen Körper auftreten,
hauptsächlich erscheint er aber im Gesicht, an den Armen
und Beinen, in weniger grosser Zahl am Torso selbst. Bei tödlichen
Fällen ist der Exitus zwischen dem 10. und dem 16. Tag nach
dem Ausbruch der Krankheit zu verzeichnen. Bei den Ueberlebenden
setzt die Verkrustung und das Abheilen der Pusteln zwischen dem
22. und 27. Tag ein, zurück bleiben in der Regel dauerhafte
Narben(142) sowie eine meist lebenslänglich anhaltende Immunität
gegen jegliche Art von Pockenerkrankungen. Zweiterkrankungen kamen
vor, festgestellt wurde jedoch lediglich eine Wiederholung auf
1000 Fälle(143) in einem durchschnittlichen Intervall von
15-20 Jahren.
Die Pockenkranken erblindeten vielfach. Hopkins(144) meint, dass um 1800 den Pocken ein Drittel aller Erblindungen zuzuschreiben sei, auch Ackerknecht(145) ist der Ueberzeugung, dass die Mehrzahl der Erblindungen im 18. Jahrhundert auf Pockenerkrankungen zurückzuführen ist und Bernoulli(146) schreibt, dass "viele der Geretteten zeitlebens siech oder verunstaltet [blieben], und besonders waren Augenkrankheiten oder Blindheit oft die Folge der Pocken". Im englischen Blaubuch(147) ist aus einem Bericht für arme Blinde angeführt, "dass zwei Drittel der Hilfesuchenden ihr Augenlicht durch die Pocken verloren hatten." Dixon(148) konstatierte 1962, dass alle, die in den letzten 150 Jahren über Pocken geschrieben hatten, feststellten, dass nach ihrer Erfahrung durch Pocken verursachte Fälle von Blindheit viel seltener waren als von ihren Vorgängern festgehalten wurde. Dieser Rückgang von Erblindungen durch Pocken wird - speziell in Europa - auf die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Ernährungssituation zurückgeführt, da das Erblinden nach einer Pockenerkrankung gewöhnlich mit einer sekundären bakteriellen Infektion oder Ernährungsmängeln einen Zusammenhang hat(149).
Daten, die einen direkten Zusammenhang von Ernährungssituation und Schwere der Pockenerkrankung ergeben oder erklären würden, existieren hingegen nicht(150).
Weiter konnte als Folge der Pockenerkrankung auch Arthritis auftreten.
Unter nichtgeimpften Personen produzieren die Pocken den höchsten Mortalitätsgrad unter den sehr jungen und den alten Menschen, die niedrigste Rate hat die Altersklasse der 5 bis 14-jährigen aufzuweisen(151).
Die durch das "variola major"-Virus verursachten Erkrankungen wurden nach dem Grad ihrer Strenge von Rao(152) klassifiziert:
Normaler Typ: dieser wurde weiter in drei Untertypen eingeteilt: Konfluenter normaler Typ, semi-konfluenter normaler Typ und diskreter normaler Typ der Pocken. Bei ungeimpften Personen wies der konfluente normale Typ eine Letalität von 62% auf. Kennzeichen war die fliessende Bedeckung des ganzen Körpers mit Pusteln, einschliesslich des Kopfes, der Extremitäten und des Torsos. Der Semi-konfluente Typ hatte eine Letalität von 37% aufzuweisen. Im Unterschied zum konfluenten Typ waren Pusteln und Ausschläge zwar auch fliessend im Gesicht vorhanden, aber in geringerer Anzahl auf den Beinen und Armen sowie dem Torso. Der diskrete Typ zeichnete sich aus durch eine tiefe Letalität von 9%, zudem erschienen keine alles bedeckenden Ausschläge, sondern nur einzelne Pusteln im Gesicht und auf dem Körper.
Modifizierter Typ: wie der normale Typ, die Krankheit verlief jedoch in beschleunigter Form, dabei wurde eine Letalität von praktisch 0% verzeichnet.
Variola ohne Eruptionen: Fieber ohne Ausschlag, welches durch das Variola-Virus verursacht wurde.
Flacher Typ: Die Pusteln blieben mehr oder weniger flach, gewöhnlich trat dieser Typ in konfluenter oder semi-konfluenter Form auf, hatte aber eine Letalität von 96% aufzuweisen.
Haemorrhagischer(153) Typ: Ueberall verteilte Blutungen auf Haut
und Schleimhäuten. Zwei Untertypen waren zu verzeichnen:
ein früher Typ, welcher mit purpurnen Ausschläge einherging
und immer tödlich verlief sowie eine später Typ mit
Blutungen in den Pusteln, welcher gewöhnlich ebenfalls zum
Tode führte(154). Zum Teil wurden auch Erkrankungen des flachen
Typs oder des konfluenten normalen Typs als später haemorrhagischer
Typ identifiziert, da es auch bei den zwei erstgenannten Formen
zu Blutungen kommen konnte. Pockenerkrankungen des haemorrhagischen
Typs hatten jedoch zwei ungewöhnliche epidemiologische Merkmale:
in der Regel waren nur Erwachsene davon betroffen, und es war
kein Ausnahmefall, wenn sowohl Geimpfte wie auch Nichtgeimpfte
von dieser Ausprägung ergriffen wurden.
Wie schon erwähnt, differiert das variola minor-Virus bezüglich der Letalität sehr stark vom variola major-Virus: steht doch eine durchschnittliche Letalität von knapp 1% einer von 15 - 25% gegenüber. Die Unterscheidung der Infektion war jedoch sehr schwierig, da die Symptome und der Verlauf der Krankheit denen des diskreten normalen oder des modifizierten Typs sehr ähnlich waren. Das Virus konnte darum erst retrospektiv nach dem Abklingen einer Epidemie anhand der Totenlisten identifiziert werden(155). War die Letalität sehr tief, also nicht höher als ca. 5%, konnte davon ausgegangen werden, dass die meisten der Erkrankungen durch das variola minor-Virus verursacht wurden. Eine durch diesen Virustyp ausgelöste Erkrankung hatte dennoch eine Immunisierung gegen jegliche Pockenviren zur Folge.
Wo, wann und wie aber das variola minor-Virus erstmals erschien,
ist unbekannt. Vermutet wird, dass dieser Erreger Ende des 19.
Jahrhunderts sich in Südafrika, Westindien, Brasilien, Nordamerika
und in Teilen Europas auszubreiten begann und die durch variola
major verursachten Erkrankungen in Brasilien, Nordamerika und
England verdrängte(156).
Hauptsächlich traten die Pocken im Winter und Frühling auf(157), während der kühlen, trockenen Saison. Eine Erklärung für dieses Phänomen ist, dass experimentell nachgewiesen werden konnte, dass die Lebensfähigkeit von Variola- und Vakziniaviren bei hohen Temperaturen kürzer als bei niedrigen und bei hoher Luftfeuchtigkeit kleiner als bei niedriger ist(158), mit anderen Worten: Unter kühlen, trockenen Bedingungen ist die Ueberlebensfähigkeit der Pockenviren grösser als unter heissen, feuchten Konditionen. Die Pocken waren im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten (bspw. der Ruhr) jedoch nicht streng an klimatische Faktoren gebunden, konnten also ebenfalls im Sommer und Herbst erscheinen.
Ein anderer Erklärungsansatz für das vermehrte Auftreten
der Pocken im Winter wird auf mögliche saisonale Veränderungen
der individuellen Anfälligkeit oder durch einen Wechsel der
Durchdringbarkeit der Schleimhäute zurückgeführt.
Zu erwähnen ist, dass keine überzeugenden Belege vorliegen,
die diesen letztgenannten Faktoren eine Bedeutung im Zusammenhang
mit den Pocken zugestehen würden(159).
Ein Problem, welches der Verbreitung der Pocken immer wieder Vorschub leistete, war die nicht vorhandene soziale Stigmatisierung der Krankheit, im Gegensatz etwa zu Lepra und Syphilis(160). So wurde der Kontakt und die Umgebung von erkrankten Personen nicht nur in Afrika und Asien im 20. Jahrhundert nicht gemieden, sondern es trat sogar eher das Gegenteil ein; dies auch im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Schon Gotthelf wies in "Anne Bäbi Jowäger" nach der Erkrankung des Jakobli an den Blattern auf diesen Missstand hin: "Als die Leute immer zahlreicher kamen und jeder ein neu Mittel angab und doch jeder fragte: was für einen Doktor sie hätten, so sagte endlich Mädi zu Hansli: es werde eine zueche müesse. Wenn es schon nichts helfe, so brauche man sich doch dann, es möge gehen, wie es wolle, kein Gewissen zu machen." Auch Rellstab(161) wies in seinem Bericht über die Pockenepidemie 1870/71 im Kanton Bern darauf hin, dass "die betroffenen Familien in den Anordnungen der Aerzte über Isolirung, Hausbann, Schul- und Wirtshausverbot, Geschäftsschluss, untersagte Besuche und wie die Dinge alle heissen, meist nur Chicanen [sahen], besonders, wenn sie alle diese Verbote oder Befehle ungestraft und in ausgiebiger Weise übertreten durften." Er ist weiter der Ansicht, dass "bei strammerer Ordnung massenhafte Verschleppungen [hätten] verhütet werden können, aber einerseits scheiterten alle Anordnungen an der unbegreiflichen Gleichgültigkeit, andererseits an direkter Widersetzlichkeit des Publikums, endlich und zwar am meisten an der sehr laxen Exekutive der Ortsbehörden. Wenn es weit kam, so wurde eine Publikation vom Stappel gelassen, diverse Strafen angedroht, aber Niemand kontrolirte die Ausführung der Anordnungen. Die Leute versprachen in Gegenwart von Kreisimpfärzten und allfälligen Behörden alles Mögliche, aber wenn sie den Rücken kehrten, wurden nach wie vor die gröbsten Verstösse ausgeführt."
Nicht nur in der Schweiz hatte man Probleme mit dem fahrlässigen Umgang ansteckender Krankheiten, denen eine soziale Stigmatisierung abging, wie das Beispiel aus dem Herzogtum Oldenburg zeigt: "Es ist auffallend, dass man diese hässliche Krankheit nicht nur ohne die geringste Vorkehrung wüthen lässt, sondern auch ihre Verbreitung in unverantwortlicher Weise befördert, da man gesunde Kinder zu Blattern und Masern Kranken schicket und deren Hemde und Kleider anziehet und Blattern in Blattern freye Oerter moculiert." (162)
Das Risiko, von einer Krankheit befallen zu werden, hängt
von der Grösse und Dichte einer Bevölkerung ab, der
Möglichkeit von Kontakten zwischen anfälligen und infizierten
Personen. Davon wird auch die Ausdehnung und Geschwindigkeit der
Verbreitung der Krankheit wesentlich bestimmt. Diese Faktoren
wurden für die Ausbreitung der Masern besser untersucht als
für die Pocken, aber dieselben Prinzipien sollten für
beide Krankheiten gültig sein. Black(163) zeigte, dass in
Insel-Bevölkerungen (also relativ isolierten Populationen)
ähnlicher Grösse die Masern sich schneller ausbreiteten
und diese Ausbrüche wiederum schneller beendet wurden in
Gebieten mit grösserer Bevölkerungsdichte. Wie
Abb. 4 zeigt, ist die Dauer einer Epidemie umgekehrt proportional
zur Bevölkerungsdichte.
Grafik dauer.cht
Abb. 4 Beziehung zwischen Bevölkerungsdichte und Dauer
einer Masernepidemie. Die Y-Achse stellt die Dauer in Monaten
dar, D ist gegeben durch die durchschnittliche Distanz in km zwischen
Neugeborenen, die zur jeweiligen Bevölkerung jedes Jahres
hinzugefügt wurden (I) und der inversen Quadratwurzel der
Zahl der neuen, anfälligen Individuen (input) und der Bevölkerung
pro km²:
I
D= ----------------------
Auch bei unkontrollierten Pockenausbrüchen in einem Land gab es nie eine gleichförmige, gleichmässige Verteilung der Fälle über das ganze Gebiet. In sogenannten Epidemiejahren war gewöhnlich ein gehäuftes Auftreten der Krankheit über das ganze Land hinweg nicht festzustellen, sondern nur in einzelnen Städten und Dörfern(164). Sogar in grossen Städten, die endemisch von den Pocken befallen waren, gab es Ausbrüche, die nur einzelne Quartiere betrafen. Ein möglicher Grund für diese beschränkten Ausdehnungen - trotz der grossen Infektiosität der Pocken(165) - könnte sein, dass infizierte Patienten im Podromalstadium der Pocken (vor dem Erscheinen der sichtbaren Symptome und bevor sie weiter als Ueberträger fungieren konnten) sich gewöhnlich schon ziemlich krank fühlten (durch Kopf- und Rückenschmerzen und z.T. sogar Blutvergiftungen(166)) und sich von der Gemeinschaft freiwillig absonderten und isolierten, indem sie sich im Bett aufhielten. Dies im Gegensatz zu den Masern, wo die Patienten im Stadium der höchsten Infektiosität kaum Symptome der sich anbahnenden Krankheit aufweisen und noch sehr mobil agieren. Aus diesem Grund wird auch angenommen, dass sich die Verbreitung der Pocken im Normalfall auf Familienangehörige und enge Kontaktpersonen - oder zumindest auf lokale Herde - beschränken sollte(167).
Aufgrund der langen Inkubationszeit (im Mittel 12 Tage) bildeten jedoch sehr häufig reisende Personen die Uebertragungs- und Ansteckungsquelle. So werden immer wieder reisende Handwerker - und wie in den 1970er Jahren Touristen, welche die Pocken aus asiatischen Ländern mittels Flugzeug nach Europa brachten(168) - als Ueberträger der Krankheit erkannt. Gerade in den Staatsverwaltungsberichten des Kantons Bern belegen viele Hinweise die Richtigkeit dieser Feststellung auch für das 19. Jahrhundert(169).
Aus diesem Grund wurden auch polizeiliche Verordnungen erlassen,
dass ins Ausland reisende Handwerker mit Impfzeugnissen versehen
sein müssen(170). Im Bernischen Impfgesetz vom November 1849
wurden die Kreisimpfärzte dazu angehalten, allen geimpften
Personen einen Impfschein auszustellen(171).
Bei der Klassierung von Pockenepidemien sind grundlegende Unterscheidungen vorzunehmen(172). Es kann sich einerseits um Pocken handeln, die auf einen Ort oder ein Land treffen, das für längere Zeit von ihnen frei war. Dadurch konnte die gesamte Bevölkerung für diese Krankheit wegen fehlender Immunität eine Anfälligkeit aufweisen. Dies führte in der Folge zu Epidemien, die alle Altersklassen betrafen. Bedingt durch die grosse soziale Erschütterung, welche die zeitgleiche Erkrankung der meisten Ernährer in Subsistenzgesellschaften verursachte, hatten solche Epidemien zusätzlich eine hohe sekundäre Todesrate aufzuweisen. In kleinen Bevölkerungen, wie etwa Island(173) oder in Niederlassungen im frühen kolonialen Nordamerika, starb die Krankheit dann schliesslich in Ermangelung an anfälligen Personen wieder aus. Epidemien konnten aber nach mehreren Jahren wieder auftreten, wenn erstens die Pocken erneut eingeführt wurden und zweitens wieder genügend anfällige Menschen vorhanden waren.
Eine zweite Situation von "epidemischen Jahren" konnte festgestellt werden in bevölkerungsreichen Gebieten, in denen die Pocken als endemische Krankheit konstant präsent waren, wie in verschiedenen Teilen Europas während des 18. Jahrhunderts und auf dem indischen Subkontinent bis 1975. Aus unterschiedlichsten Gründen, zu nennen wären demographische und klimatische Faktoren sowie die Aktivitäten von Impfpersonen, schwankte die Zahl der anfälligen Personen und die optimalen Bedingungen für die Uebertragung ständig, so dass grössere Epidemien alle paar Jahre auftraten, dies auf dem Hintergrund der Endemie. In dieser Situation - bei weitgehender Immunität der Personen im erwerbsfähigen Alter - waren kommunale Gemeinschaften kaum in ihrer ökonomischen Existenz gefährdet.
Die Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten hängt von drei Faktoren ab: den Erregern (die die drei unterschiedlichen Eigenschaften der Infektiosität, der Pathogenität und der Virulenz besitzen), dem Organismus (und dessen "Disposition" oder Erkrankungsbereitschaft, die etwa vom Lebensalter, dem Geschlecht, dem sozialen Umfeld, der körperlichen Konstitution etc. abhängig sein kann) und von der Möglichkeit der Erreger, den Organismus zu infizieren (Uebertragungswege, bspw. durch Insekten, infiziertes Trinkwasser oder direkte Ansteckung von Tier zu Mensch oder von Mensch zu Mensch durch Kontaktinfektion, Tröpfcheninfektion und Stäubcheninfektion).
Epidemien sind nur in seltenen Fällen auf das Ueberhandnehmen ungewöhnlich virulenter Erreger zurückzuführen. In der Regel verfügt eine Vielzahl von Menschen über keinen wirksamen oder ausreichenden Immunitätsschutz. Trifft nun ein Erreger auf eine Bevölkerung dieser Art, wird in Ermangelung an Personen, welche aufgrund ihrer Immunität die Infektionskette der Krankheit abbrechen lassen, sich eine Epidemie entwickeln können.
Es gibt unterschiedliche Formen von Pockenviren (variola major und variola minor) die verschiedene Letalitätswerte zur Folge haben: knapp 1% bei variola minor und zwischen 15 und 25% bei variola major.
Bei den Pocken handelt es sich um eine schwere und ansteckende Viruserkrankung, die meist einhergeht mit einem charakteristischen pustulösen Hautausschlag. Die Eintrittspforte für das Virus ist häufig der Respirationstrakt, seltener erfolgt die Uebertragung auch durch kontaminierte Gegenstände wie bspw. Kleidungsstücke. Die Inkubationszeit beträgt zwischen 10 und 14 Tagen.
Der Ausbruch der Erkrankung ist verbunden mit hohem Fieber, Kopfschmerzen, Frösteln, Rückenschmerzen, Erbrechen und teilweise einem Delirium. Bei tödlichem Ausgang tritt der Tod meist zwischen dem 10. und dem 16. Tag nach dem Ausbruch ein. Die Ueberlebenden sind vielfach durch dauerhafte Narben gezeichnet und haben eine lebenslängliche Immunität erworben.
Viele Pockenkranke erblindeten auch. Die Ursache dieses Erblindens war aber gewöhnlich eine sekundäre bakterielle Infektion oder ein Ernährungsmangel.
Daten, die einen direkten Zusammenhang von Ernährungssituation und Schwere der Pockenerkrankung bestätigen würden, liegen nicht vor.
Häufig treten die Pocken im Winter und im Frühling auf, während der kühlen, trockenen Saison (v.a. weil unter diesen Konditionen die Pockenviren signifikant länger überleben). Im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten sind die Pocken jedoch nicht streng an klimatische Faktoren gebunden und können ebenso im Sommer und im Herbst erscheinen. D. h. sie haben eine relativ starke Unabhängigkeit von klimatischen Bedingungen.
Den Pocken fehlte im Gegensatz zu anderen Krankheiten (bspw. Lepra) eine soziale Stigmatisierung!
Entscheidende Faktoren für die Ausdehnung und die Geschwindigkeit der Verbreitung einer Krankheit sind die Bevölkerungsgrösse und -dichte.
In sogenannten Epidemiejahren kam es nie zu einer gleichförmigen, gleichmässigen Verteilung der Pockenfälle über das gesamte Gebiet, sondern die Erkrankten konzentrierten sich im gleichen Dorf, in der gleichen Stadt oder sogar im gleichen Quartier.
Vor dem Erscheinen der ersten sichtbaren Symptome der Pocken (jedoch schon in der Phase, in der die Krankheit übertragen werden konnte) fühlten sich viele Menschen sehr krank und sonderten sich freiwillig von der Gesellschaft ins Krankenbett ab, wo sie dann in der Regel nur noch Familienangehörige ansteckten, jedoch die Krankheit nicht mehr im grossen Stil verbreiteten.
Viele an den Pocken erkrankte Menschen starben an dieser Krankheit und die Ueberlebenden waren meist gezeichnet durch die charakteristischen Pockennarben im Gesicht. Schon früh wurde die Beobachtung gemacht, dass Leute, welche solche Narben aufwiesen, nicht ein zweitesmal an den Pocken erkrankten. Aus diesem Grund wurde der Versuch unternommen, die unvermeidbare Krankheit(174) künstlich hervorzurufen, um sie in günstiger Zeit in milder Form durchzustehen. Dazu wurden etwa Kinder zu Pockenkranken ins Bett gelegt oder das sogenannte "Pockenkaufen" praktiziert, welches in verschiedenen Variationen in vielen Teilen der Welt nachgewiesen werden kann(175). Die vor den Pocken zu schützenden Kinder wurden in das Haus eines an den Pocken Erkrankten geschickt, welcher sich schon im Rekonvaleszenzstadium befand. Dort erstanden sie für ein paar Geldstücke Pockenkrusten. Ein Geldstück wurde auf die reifen Pusteln gelegt und dem Kind an ein Bein gebunden, oder die Haut wurde kräftig damit eingerieben(176). Sehr selten kamen Nadeln zur Anwendung, die "Impfungen" wurden meist ohne Hautläsionen bewerkstelligt. Aus dem Bericht des Berliner Arztes Domeier vom Januar 1801, welcher in Portugal unterwegs war und der Jennerschen Kuhpockenimpfung zum Durchbruch verhelfen sollte, ist eine Beschreibung dieses "Pockenkaufens" enthalten: "Die Vernachlässigung der Impfung der Kinderpocken wird Ihnen die Blindheit jenes Volkes zeigen und Sie werden sie umso unverzeihlicher finden, wenn Sie lesen, dass in den gebirgigen Theilen der Provinzen Tras os Montes und Entre Minho e Douro schon seit unbedenklicher Zeit geimpft wird. Man nennt es dort die Pocken kaufen, weil man dem an Pocken kranken Kinde eine Kupfermünze bezahlt, um dafür mit einer anderen zerbrochenen die Pockenmaterie aufzunehmen, womit man alsdann dem Candidaten die Haut ritzt, um die Impfung zu bewerkstelligen. Dies ist ein Geschäft alter Weiber und eine Gewohnheit, die höchst wahrscheinlich von den Arabern als Erbschaft diesen Bergbewohnern zurückgelassen ist." (177)
Es wurden noch viele andere Methoden zur Verhütung oder zur Durchstehung der Pocken in milder Form praktiziert, die zum Teil abergläubischen Vorstellungen entsprangen. So hielten sich in England im 17. Jahrhundert auf dem Land die an Pocken erkrankten Leute nahe ihrer Kammern Schafe oder einen "Schöps" (Hammel), da sie glaubten, dass diese Tiere die vergiftete Materie empfangen und an sich ziehen würden. Auch Eiter oder Pockenkrusten wurden für längere oder kürzere Zeit mehr oder weniger intensiv mit der Haut in Kontakt gebracht. Kinder wurden im Bad mit Bürsten bearbeitet, die zuvor von einem Pockenkranken benutzt wurden. Ebenfalls wurden in Honigwasser gelöste Pockenkrusten eingenommen(178). Die Chinarinde, welche 1640 in Europa eingeführt wurde, galt für längere Zeit als probates Mittel gegen die Pocken. Auch Bisam und Quecksilber wurden getragen, da deren Ausdünstungen die Insekten vernichten sollten, "welche für die Ursache der Pocken, sowohl als der Pest und anderer Arten von Ausschlägen gehalten wurden." (179)
In Indien wurden Impfungen schon in vorchristlicher Zeit durchgeführt, ebenfalls in China finden sich alte Hinweise auf das "Pockensäen". Dabei wurden trockene Pockenkrusten ganz oder zerrieben in die Nase gelegt oder geblasen(180).
Die Inokulation, Variolation oder auch Einpfropfung wurde in Konstantinopel
um das Jahr 1672 eingeführt, wo diese Methode vermutlich
von China oder Persien her gebracht wurde. Dort sah 1713 der griechische
Arzt Emmanuel Timori zum ersten Mal die Durchführung einer
Inokulation. Er schrieb: "Nachdem ein passendes Kontagium
ausgesucht worden ist, muss der Eiter von den Pusteln auf die
zu infizierende Person übertragen werden, weshalb dies 'metaphorische
Aufpfropfung' oder 'Inokulation' genannt wird." (181) In
Europa wurde die Variolation zuerst in England durchgeführt,
wo diese Methode durch die Gattin des englischen Botschafters,
Lady Mary Wortley Montagu, einer grösseren Oeffentlichkeit
bekanntgemacht wurde. 1721 wurde die erste Inokulation auf dem
europäischen Kontinent vorgenommen, zwei Jahre später
geriet diese Methode jedoch in Verruf, nachdem der Sohn des Grafen
von Sutherland an den Folgen der Inokulation verstarb und im selben
Jahr eine weitere Person trotz Inokulation an den echten Pocken
erlag. So wurden in England in den Jahren 1721 bis 1728 lediglich
ca. 900 Personen inokuliert. Nach Smith(182) kann als "Zeitalter
der Inokulation" die Periode von 1752 bis 1798 bezeichnet
werden. Der Durchbruch dieser Impfmethode wurde beschleunigt durch
die grosse Epidemie von 1751 bis 1753 in London und die Aenderung
der Impfmethode, welche weniger gravierende Folgen als die zuvor
angewandte nach sich zog.
Die Variolation selbst geschah folgendermassen: Je nach Land und
Arzt, welcher die Variolation vornahm, wurden in der Regel Kinder
- jedoch nicht vor dem zweiten Lebensjahr - geimpft. Vorbereitet
wurde die Variolation (vor allem in England) durch eine leichte
Diät und die Einnahme purgierender und laxierender Medikamente.
Danach wurde durch einen Einschnitt in der Haut die Pockenmaterie,
also abgetrocknete Krusten oder der flüssige Inhalt einer
Blase, in die verursachte Wunde eingebracht und der Patient wurde
auf diese Art und Weise mit den Pocken infiziert. Der englische
Arzt Dimsdale(183) beschreibt den Vorgang folgendermassen: "Man
bringt die zu impfende Person in das Zimmer der bereits Erkrankten
oder bereits Inokkulierten, von der man das Serum entnehmen will.
Man nimmt entweder von der Pfropfwunde (wenn die Krankheit inokkuliert
ist) oder eine reife Blatter (wenn sie natürlich ist) auf
die Spitze einer Lancette, so dass beide Seiten derselben davon
befeuchtet werden. Mit dieser Lancette macht man an derjenigen
Stelle des Arms, wo man sonst die Fontanellen zu setzen pflegt,
einen Einschnitt, tief genug, dass solcher durch den Narben der
Haut durchgehe und just die Haut selbst berühre. Die Länge
soll so wenig als möglich und nicht über den achten
Teil eines Zolls betragen. Nachdem sodann der Operateur diese
kleine Wunde zwischen Zeigefinger und Daumen etwas in die Breite
gezogen und geöffnet hat, befeuchtet er den Einschnitt mit
der Pockenmaterie, indem er die flache Seite der infizierten Lancette
dagegen drückt." Der Verlauf dieser künstlich hervorgerufenen
Erkrankung sollte eigentlich milder sein als der Ausbruch der
Krankheit selbst. Grafik 2 zeigt einen solchen idealtypischen
Verlauf einer Inokulation. Der charakteristische Ausschlag der
Pocken sollte nicht den ganzen Körper bedecken, sondern nur
die Umgegend der behandelten Stelle. Auch die Fieberschübe
sind bei gutem Verlauf von kürzerer Dauer als beim Ausbruch
der echten Pocken.
Grafik 2 Verlsuf der Inokulation
Dass diese Methode nicht frei von Gefahren ist, scheint einleuchtend
zu sein, da ja mit menschlichem infizierten Material die Erkrankung
direkt von Person zu Person übertragen wurde. Die Inokulierten
selbst waren wiederum in der Lage, die Pocken weiterzuverbreiten
wie ein tatsächlich an den natürlichen Pocken erkrankter
Mensch. Die Inokulierten isolierten sich zudem kaum und Hufeland(184)
zu Weimar berichtet: "Die Spaziergänge waren voll mit
Blatternkindern". So war es nur verständlich, wenn im
Anschluss an solche Variolationen zum Teil schwere epidemische
Ausbrüche der Pocken verzeichnet werden konnten und in verschiedenen
Ländern Europas die Inokulation verboten wurde(185).
Die Gefahr von Komplikationen wurde durch die bis in die 1750er Jahre angewandte Methode, welche öfters mit Sekundärinfektionen, dem schwersten Ausbruch der Pocken, Erblindung oder sogar dem Tode des Impflings endete(186), zusätzlich vergrössert. Klebs(187) ist jedenfalls der Ansicht, dass zu dieser Zeit mit dieser Methode nur sehr selten das Bild einer reinen Pockeninfektion auftrat, und es unter den gegebenen Umständen überhaupt an ein Wunder grenzte, wenn sich genügend Impflinge finden liessen, die bereit waren, sich dieser Prozedur zu unterwerfen. Bis etwa 1755 schien es aus der Sicht der Inokulatoren nötig, tiefe Schnitte mit der Lanzette zu ziehen und grosse Mengen infizierten Materials in diese klaffende Wunde einzubringen, weil sie annahmen, dass nur die Ausbildung einer beträchtlichen Zahl von Pusteln den Patienten vor den Pocken in Zukunft schützen werde. Weiter verschärfend auf den Ausgang der Inokulation wirkte sich auch die unhygienische Aufbewahrungsart des Impfstoffes aus (wenn es sich nicht um frische Pockenkrusten und -flüssigkeit von einer zur Verfügung stehenden erkrankten Person handelte). Besonders verbreitet war das Antrocknen von Eiter auf Fäden(188). Diese wurden dann direkt in die Wunde eingebracht. Auf welche zum Teil lebensgefährliche Art und Weise bei der Inokulation vorgegangen wurde, ist bei Bohn(189) zu erfahren. Ursprünglich gingen die Inokulatoren von der Annahme aus, dass die durch die Einpfropfung im Körper erzeugte Pockenmaterie wieder abgeführt werden müsse, aus diesem Grund wurden mehrfache, zolllange und tiefe Impfschnitte als absolut notwendig erachtet. Zum Teil gingen sie sogar soweit, dass mit der Schere Hautstücke abgetragen und Pusteln in diese Wunden gepresst wurden. Auch an den Schienbeinen wurde die Variolation vorgenommen, obwohl sich an dieser Stelle häufig tiefe und lange eiternde Geschwüre bildeten. Vielfach wurden die durch die eingelegten Fäden verursachten Eiterungen noch künstlich verlängert. Robert Houlton(190) erwähnt 1768, dass inokulierte Patienten (inklusive denjenigen, die die Prozedur nicht überlebten) an der Krankheit so stark litten, dass kaum ein Unterschied zwischen den natürlichen Pocken und den inokulierten festgestellt werden konnte. Die neu ab Mitte der 1760er Jahre aufkommende sogenannte "Suttonsche Methode" propagierte nun, die Einschnitte nicht mehr so tief anzubringen und vor allem Lymphe zu benutzen, welche aus Pusteln im frühen Stadium der Entwicklung (gewöhnlich um den vierten Tag herum) entnommen wurde. Ebenfalls sollte die Impfwunde nicht mehr durch einen Verband oder ein Pflaster bedeckt werden. Diese Massnahmen hatten recht grosse positive Auswirkungen, da einerseits das lange dauernde Nässen und Eitern der Wunde reduziert wurde und andererseits nun nicht mehr das stark bakteriell verunreinigte Material der Pusteln des späten Stadiums zur Anwendung gelangte, welches häufig Sekundärfolgen in Form von Wund- und anderen Infektionen (Erblindung!) nach sich zog. Die Inokulation, welche bis zur Einführung der Suttonschen Methode relativ häufig tödlich verlief(191), galt nun als meist schmerzlos und ziemlich mild in den Auswirkungen(192).
Mit der Aenderung der Methode, die bis zu diesem Zeitpunkt als
grosses Hindernis angesehen werden musste, war der Durchbruch
der neuen Schutzmethode aber noch keineswegs gesichert. So bremsten
speziell die hohen Kosten für die Impfung deren grössere
Verbreitung und Popularisierung. Bohn(193) erwähnt, dass
vor allem die "gemeine Habsucht" und die "Charlatanerie
der Impfärzte, ihre Marktschreierei im wörtlichen Sinne,
ihr Geheim- und Grossthun mit besonderen Kunstgriffen und specifischen
Mitteln" die Preise für eine Inokulation dermassen in
die Höhe trieben. Aus den einfachen Nadelstichen, wie sie
noch in Indien und Griechenland praktiziert wurden, waren nun
Operationen grössten Stils gemacht worden. Ein Arzt leitete
wochenlang die Vorbereitung (etwa durch Purgieren und Laxieren),
ein Wundarzt kontrollierte die Pocken und besorgte die Wunden,
während danach wiederum der erste Arzt die Nachbehandlung
übernahm. Dadurch war auch die Masse der Armen und Unbemittelten
von dieser kostspieligen Schutzmethode ausgeschlossen. So schreibt
1779 Jakob Christoph Scherb(194), Arzt zu Bischofszell, in seiner
Abhandlung "Ueber die Einpfropfung der Pocken": "Manche
Mutter hätte ihr Kind schon impfen lassen, wenn sie die Kosten
nicht gescheut hätte und nicht gedacht hätte, die Einpfropfung
schicke sich für ihren Stand ebensowenig, wie das Fahren
in einer Kutsche mit 6 Pferden." Auch Smith erwähnt,
dass in England der hohe Preis für eine Impfung bis in die
1760er Jahre einer der wichtigsten Gründe für die minime
Verbreitung war(195). Deshalb wurde schon frühzeitig an den
Staat appelliert, Subventionen für diese Schutzmethode zu
bezahlen(196). Zudem wurden verschiedene Ratgeber veröffentlicht,
wie die Impfung von Privaten selbst durchgeführt werden könne
um dadurch erkleckliche Kosten einzusparen. So publiziert 1782
Dr. Aeppli in Diessenhofen den "Inokulations-Katechismus"
und gibt darin eine leicht verständliche Anleitung, wie jedermann
unabhängig von einem Arzt, mittels einer gewöhnlichen,
breitgeschliffenen Nadel die Blattern selbst einpfropfen könne(197).
Die erste auf bernischem Gebiet erfolgte Inokulation wurde von Albrecht von Haller 1757 durchgeführt(198). Haller berichtet, dass er seine Tochter inokuliert habe und als die Pocken bei ihr nicht ausbrechen wollten, wurde sie zweimal mit neuem Pockeneiter von anderen Personen behandelt, ohne dass dabei indessen ein neuer Schnitt angebracht wurde. Es erschienen aber nach wie vor keine Pusteln, da die Wunden während sechs Wochen jedoch schön eiterten, gab man sich zufrieden und hielt die Tochter für immun. Von diesem Jahr bis 1773 schweigen die Quellen. Anzunehmen ist jedoch, dass weitere Inokulationen gemacht wurden und es im Anschluss an diese Eingriffe auch zu epidemischen Ausbrüchen der Pocken kam.
Jedenfalls machte sich in Bern der Sanitätsrat Gedanken über die Verbreitung von Epidemien durch Personen, welche die Pocken eingepfropft erhielten. So existiert ein Hinweis auf ein "Consultum Medicum über die Einpfropfung" vom 13. Februar 1783 in der "Sammlung von Etats in herrschenden Krankheiten im Land"(199), und schon am 28. September 1773 schreibt der Sanitätsrat: "Ohne Rücksicht auf die Zeit [d.h. Jahreszeit] werde die Einpfropfung der Kinderblatteren von hiesigem Publico unternommen; und um so gefährlicher finden, da nach der neuen Methode man die eingepfropften Kinder an der freyen Luft herum gehen lässt, dass vermittelst dieses Herumgehens eben, sowohl bey Erwachsenen Personen, als durch das Antasten anderer Kinder von üblen Folgen seyn könte." (200) Der Sanitätsrat fragte sich, ob er nicht durch ein Avis auf diese Gefahr aufmerksam machen solle. Bis ins Jahr 1777 geschah in dieser Angelegenheit jedoch nichts mehr. In der Zwischenzeit wurde die neue Schutzmethode scheinbar nicht nur von Medizinern, sondern auch von Laien betrieben. Nach verschiedenen Diskussionen und gehaltenen Vorträgen erliess der Sanitätsrat am 21. März 1777 die Verordnung "Wegen Einpfropfung der Poken oder Kindsblateren"(201), die festhielt "damit die Poken oder Kinderblatteren nicht zu allen Zeiten grassieren, und in eine Epidemie sich ausweiten, haben M[eine] H[ochgeacht] H[ochgeehrtesten] H[er]rn zu erkennen nöthig erachtet: das zwar die Einpfropfung der Poken oder Kinderblateren fürbar männiglich erlaubt seyn solle; dennoch mit der Einschränkung: dass diese nicht in den Städten, sondern auf dem Land allein, und zwar nur zu Frühlings- und Herbst-Zeit vorgenommen werde." Entgegen der ursprünglichen Absicht wurde nicht ein generelles Verbot der Inokulation im Kanton Bern ausgesprochen, sondern diese Methode war lediglich in den Städten des Kantons von nun an untersagt, konnte aber auf dem Land während des Herbstes und des Frühlings weiterhin durchgeführt werden. Beim Ausbruch einer Pockenepidemie im darauffolgenden Herbst in der Stadt Bern wurde bekannt, dass der "Revue Schreiber" Gross seine Kinder trotzdem vom Chirurgen Wyss innerhalb der Stadtgrenzen inokulieren liess. Gross wurde angehalten, seine Kinder "innezubehalten", sie also nicht aus dem Haus gehen zu lassen, solange sie an den Pocken leiden. Die in der Stadt ansässigen und tätigen Chirurgen mussten jedoch vor der Sanitätskammer erscheinen "um dieselben in Gelübd aufzunemmen, dass Sie die Kinderblatteren nur Frühling und Herbst und nirgends als auf dem Land, wenn je die Haus Vätter es von Ihnen begehren, selbe einpfropfen sollen." (202) Am Nachmittag um zwei Uhr erschienen dann einschliesslich des Sünders Wyss sechs "Operatoren" und "Chirurgi" vor der Kammer, um dieses Versprechen zu leisten.
Nach dem Ende der Epidemie forderte der Sanitätsrat am 14. März 1778 von den Stadtärzten einen "gründlichen und umfassenden medicinischen Bericht" und "eine exacte Verzeichnuss von allen, gegenwärtig in der Stadt Bern, von ihrem Anfang gar, an den Kinderblatteren darniedergelegenen genesenen und gestorbenen"(203). Die Stadtärzte waren jedoch nicht in der Lage, die gewünschten Informationen zu erbringen, da einige der Kranken von Auswärtigen Medizinern versorgt wurden und viele überhaupt keine medizinisch Betreuung erhielten, ausser "dass nach ausgestandener Krankheit viele Eltern in den Apotheken eine oder mehrere Laxierungen genohmen, als worin die ganze Kur insgemein besteht." 1781 hatte der Landarzt von Aubonne dem Sanitätsrat ein Projekt des Pariser Arztes Poulet zur "Hemmung der Poken"(204) vorgeschlagen. Was er genau bezweckte, ist nicht überliefert. Dieser Vorschlag wurde aber vom Collegy Insulari am 10. September verworfen, weil "allein hier in der Haubstadt und den grösseren Orten wären alle medicinischen Bemühungen unnütz wenn selbige nicht durch eine genaue und scharfhe Aufsicht der Policey unterstüzet würde; fragt sich also ob eine Hohe Oberkeit alle die verordneten Massnahmen in des H Poulet Policeyordnung genau wolle befolget wissen." (205) Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine strenge Gesundheitskontrolle, die auch auf schlechte Luft (Miasmen), Isolierung und Ueberwachung von Kranken(206) und Hausbann zu achten sowie andere Massnahmen zu verfolgen hatte.
Im Oktober 1787 wurde beim Ausbruch einer erneuten Epidemie folgende Publikation ins Avis-Blatt gesetzt: "Es haben MeHgHH die Gesundheits-Räthe bey gegenwärtiger Epidemie der Kinderblattern beobachtet, dass die mit derselben behafteten Kinder sich offensichtlich auf den Spaziergängen und in den Lauben zeigen. Damit nun das Publicum vom Schreken dieser Epidemie und derselben Folgen gesichert werde: so verbieten Wohldieselben allen Haus Vatern, so dergleichen mit den Blattern behaftete Kinder haben, solche weder in den Lauben noch auf den Spaziergängen herum gehen zu lassen; ansonst dieselben ihnen wiedrum würden nach Hause geführt werden." (207) Dass die von den Pocken befallenen Kinder nicht isoliert wurden, scheint ein ständig wiederkehrendes Problem zu sein, mit dem sich die Obrigkeit abzumühen hatte. August Tissot(208) war jedoch der Ansicht, dass es nicht nachteilig sei - unter anderem auch durch die Inokulation - die wahren Pocken zu verbreiten, da bei einer sporadischen Ausbreitung die Krankheit einen viel gutartigeren Charakter aufweise als bei einem epidemischen Auftreten(209).
Aus den geschilderten Mühen der behördlichen Instanzen
lässt sich erkennen, dass der Pockenkrankheit in der Tat
eine soziale Stigmatisierung abging. Es wäre im anderen Fall
sonst kaum möglich gewesen, ohne nennenswerte Opposition
(ausser derjenigen der Obrigkeit) die erkrankten oder sich im
Genesungsstadium befindlichen Kinder frei in der Stadt herumgehen
zu lassen. Obwohl die Pocken zwar gefürchtet waren, kann
nirgends ein Misstrauen dieser Krankheit gegenüber erkannt
werden, wie es etwa bei Pestverdacht sehr schnell geäussert
wurde. Zudem waren von den Pocken im 18. Jahrhundert im Gegensatz
zur Pest in der Regel vorwiegend Kinder betroffen, welche bei
ärmeren kinderreichen Familien nicht selten bei einer Erkrankung
ihrem Schicksal überlassen wurden(210).
In Bern wurde von Zeit zu Zeit geimpft, bindende staatliche Vorschriften und Verordnungen über deren Durchführung existierten jedoch nicht. Auch statistisch verwertbares Material über den effektiven Umfang und das Ausmass der durchgeführten Inokulationen liegt nicht vor. Zu hoch wäre in diesem Fall die Dunkelziffer, da sich viele Laien durch Impfen profilierten, und besonders diese Inokulationen würden einer Registration durch staatliche Stellen entgehen.
Trotz der guten Absichten dieser impfenden Personen gab es viele
Missbräuche und Komplikationen. So wurde 1804 nicht nur in
Zürich, sondern auch in Bern mit der Regelung des Impfwesens
durch den Staat vor impfenden Laien ausdrücklich gewarnt:
"Wir erinnern aber auch zugleich jedermann, sich niemand
zur Impfung der Schutzpocken anzuvertrauen, der nicht Arzt oder
Wundarzt, und nicht ein dieser Sache kundiger Mann wäre;
damit nicht ein ungeschicktes Verfahren, oder die Anwendung von
schlechter Impfmaterie, wie im verflossenen Jahre an mehrern Orten
dieses Cantons, nahmentlich im Oberland geschehen ist, dieses
Schutzmittel fehlschlagen mache, welches in geschickten Händen
sonst von den wohlthätigsten Folgen seyn wird." (211)
Auch in der "Anweisung zur Impfung und Behandlung der Kuh-
oder Schutzpocken"(212) von 1804 wird auf diesen Punkt noch
einmal hingewiesen: "Es mag zwar wohl hin und wieder ganz
gut gewesen seyn, dass Nicht-Mediziner, Güterbesitzer und
andere wohlthätige Menschenfreunde, sich mit der Impfung
der Schutzpocken persönlich abgegeben haben; es mag dadurch
wohl manches Kind den Kindsblattern entgangen, und manche Mutter
für die Schutzpocken gewonnen worden seyn. - Indessen hat
dieses Impfen durch nicht medizinische Hände gewiss auch
seine sehr schlimme Seite. Eine Operation, deren Folge nicht nur
auf ein einzelnes Individum, wie etwa die des Aderlassens und
Zahnausziehens, sondern auf das ganze Menschengeschlecht berechnet
wird, soll und darf schlechterdings nicht zum Spielwerk dienen,
nicht leicht angesehen, und oberflächlich behandelt werden.
[...] Diese menschenfreundlichen Bemühungen der Arzneykunst
unkundiger Privatpersonen, sind daher in unserm Canton, durch
die Bestellung eigener obrigkeitlicher Armen-Impf-Aerzte, überflüssig
geworden."
Die neue Schutzmethode der Inokulation hatte allem Anschein nach aber auch gegen ein generelles Misstrauen anzukämpfen, welches sämtliche Neuerungen betraf, und stiess im Volk aus diesem Grund auf Widerstände(213). Ausschnitte aus einem Brief eines unbekannten Autors veranschaulichen die Probleme bei der Durchführung solcher Aktionen: "Die ungezogenen Kinder zerbeissen mir oft Finger und Hände; Ammen und Wärterinnen schreien und schluchzen, wenn sie die Lancette sehen, sie laufen zur Mutter und klagen den Ketzer an, dass er mit einem Messer - wie ein Arm lang - dem Kinde am Hals schnitte; ja, in diesem Augenblicke würde es wohl schon nicht mehr seyn! Die in Wuth versetzte Mutter stürzt mit allem Ungestüme heftiger Leidenschaft ins Zimmer und überhäuft den mit ausgelassenen und zügellosen Vorwürfen, der es sich angelegen seyn lässt, ihr Kind gegen die Gefahr der Kinderpocken zu schützen. Bei einem anderen musste ich mich ins Haus schleichen, damit mich die Mutter und Grossmutter nicht sehen, wenn ich nur mit Bewilligung des Vaters impfte. Ein anderes Mal musste ich mir gefallen lassen, 1000 alberne Fragen zu beantworten oder Beweise aus Gebet- und Gesangbüchern, dass es nicht gegen die Vorsehung gehandelt sey, seinen Kindern das Leben zu retten." (214) Hier wird ein weiterer wichtiger Hemmfaktor für die Einführung der Inokulation erwähnt, welcher dann wiederum bei der Einführung der Schutzpockenimpfung aufgegriffen werden sollte: die religiös motivierte und von einem Eingriff in die göttliche Vorsehung ausgehende Ablehnung durch den Klerus jedwelcher Provenienz(215). Der hallesche Arzt Franz Olberg schrieb im März 1792: "Die Juden halten von der Impfung nichts. Ihrem Rabbi nemlich geht es eben so, wie es vielen von unseren Glaubensgenossen gegangen ist; er hat das Unglück, diese Handlung für einen Eingriff in die Rechte Gottes zu halten. Wirklich ist das Eifern mancher Prediger, dasjenige, was unter den niederen Ständen die Impfung allhier noch einschränkt." (216) Auch die ersten an Christen vorgenommenen Inokulationen 1673 in Konstantinopel seien erst möglich geworden, nachdem eine mit der Impftechnik vertraute Frau vorgab, im göttlichen Auftrag zu handeln. Durch den Arzt Timoni und den Laienmediziner Pylarino wurde dieses Ereignis überliefert: "Eine thessalische Griechin brachte die Impfkunst 1673 nach Constantinopel. Sie hatte schon lange in Circassien geübt. Um aber mehreren zu nützen, gab sie vor, die heilige Jungfrau habe ihr diese Cur offenbart und die Schnitte kreuzweis zu machen anbefohlen. Diese Kreuzschnitte nahmen alles Volk ein. In kurzer Zeit liessen sich über 6000 Personen auf diese Muttergottesart impfen." (217) Das geläufigste Argument gegen die Inokulation war, dass man dadurch den Willen Gottes missachte und "die körperliche Sicherheit wider die Pocken setzet die Seele in Gefahr." (218) Ebenfalls als Verstoss gegen den göttlichen Willen wurde angesehen, dass es keinem Menschen gestattet sei, sein Leben vorsätzlich in Gefahr zu bringen. Dementsprechend wurden seitens der Impfpropagandisten Voten in die Diskussion eingebracht. Auch im Kanton Bern sah sich die Obrigkeit mit religiös motiviertem Widerstand konfrontiert. In der "Anweisung zur Impfung und Behandlung der Kuh- oder Schutzpocken" wird versucht, diese Vorurteile mit dem zu dieser Zeit meistbenutzten Argumentationsmuster zu entkräften: "Man muss sich vielmehr wundern, wie es aller der befriedigendsten Erfahrungen, und aller der einladendsten Beyspiele ungeacht, noch Eltern geben kann, die, ohne sich selbst einen Grund ihres unglücklichen Starrsinns angeben zu können, als etwa den, dass sie die Möglichkeit nicht einsähen, wie die Schutzpocken vor den Kindsblattern schützen können, - oder den, dass es Sünde sey, den Kindsblattern vorzubeugen, wenn sie uns von der Vorsehung zuerkannt seyen, immer noch, ihre unschuldigen Kinder der Gefahr einer eckelhaften Verunstaltung, lebenslänglicher Kränklichkeit, oder gar der eines schreckhaften Todes durch die Kindsblattern Preis zu geben vorziehn [...] Wenn es Sünde ist, die Kindsblattern durch Impfung der Schutzpocken zu verhüten, so muss es auch Sünde seyn, durch jährliches Aderlassen, Schröpfen und Laxiren andern Krankheiten vorzubeugen, und Sünde müsste es seyn, durch einen Blitzableiter mein Eigenthum vor dem Einschlagen des Blitzes zu sichern." (219)
Doch auch die Vertreter der neuartigen Schutzmethode waren nicht
frei von Zweifeln, und sie fragten sich, ob diese Manipulation
überhaupt mit der medizinischen Ethik vereinbar sei. Britische
Aerzte sahen sich 1721 durch auf Befehl des Königs erfolgte
probatorische Variolationen an zum Tode verurteilten Delinquenten
beim Misslingen zum Gehilfen des Henkers gestempelt(220). Versuche
mit Inokulationen wurden ebenfalls an Waisenkindern durchgeführt.
Und der Variolation haftete das Stigma an, dass selbst ein Ueberleben
der Impfung schwere, das Leben beeinträchtigende Nachwirkungen
mit sich bringen konnte. Getrieben von den Zweifeln über
die Korrektheit seines Handelns wandte sich der aus Halle stammende
Impfpropagandist Johann Christian Wilhelm Juncker mit der Frage
"ist die Impfung sittlich oder unsittlich" an Immanuel
Kant und erhoffte von diesem eine Antwort(221).
Bohn(222) zieht aus seinen Untersuchungen den Schluss, dass es sich bei der Inokulation des 18. Jahrhunderts um ein aussichtsloses Unterfangen gehandelt habe. Dies nicht nur wegen der ihr entgegengebrachten Skepsis, sondern auch weil die Wirkungslosigkeit in ihrem Wesen - der Methode an und für sich und deren Durchführung - begründet lag. Es handelte sich trotz den Verbesserungen durch Sutton Mitte der 1750er Jahre nach wie vor um ein gefährliches Schutzmittel, dessen Auswirkungen nie vollständig kontrolliert werden konnten. Gravierend wirkte sich vor allem die künstliche Verbreitung der Pocken durch inokulierte Personen aus, "und zu den Blatternepidemien, welche die Menschheit, wie früher, von Zeit zu Zeit heimsuchten, fügte die Inoculation zahlreiche gelegentliche Erkrankungen, fachte neue Epidemien an, und machte die Blattern dauernd, endemisch in Europa; ja trug dieselben in manche, mit ihnen unbekannte Gegenden erst hinein. Die Zahl der jährlichen Blatterntodten, welche ehemals, je nach der Wiederkehr und Verbreitung der Epidemien, erheblich geschwankt hatte, wurde nun eine mehr gleichmässige. Es ist hier, absichtlich und aus Missverständniss, viel übertrieben worden, wenn die enorme Häufung der Blatternepidemien, und damit die Zunahme der Todten gegen den Schluss des vorigen Jahrhunderts kurzweg nur als Werk der Inoculation verschrieen wurden, aber von einer, freilich schwer abmessbaren, Mitschuld kann dieselbe keineswegs freigesprochen werden." (223) Trotz der vom hygienischen Standpunkt aus bedenklichen Methode ist die Wirkung der Variolation nicht zu unterschätzen, da sie trotz allem Hindernisse beseitigte und den Weg ebnete für die von Jenner entdeckte Schutzimpfung. Smith erwähnt - im Gegensatz zu Bohn -, dass nach 1750 die Pockenmortalität in England am Abnehmen begriffen war, nicht zuletzt dank der Popularisierung der Inokulation und der Durchführung von Massenvariolationen in Dörfern und Städten(224). Zwar konnte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England und Wales ein Bevölkerungswachstum von beinahe drei Millionen Einwohnern verzeichnet werden. Aufgrund der ungenauen Angaben kann aber nicht der konsistente Schluss gezogen werden, dass die Inokulation hauptsächlich für diese Zunahme verantwortlich gemacht werden kann(225). Verbesserungen des Ernährungsstandards (durch die Einführung neuer Methoden in der Landwirtschaft(226)) gelten als wichtige subsidiäre Komponenten für das spektakuläre Wachstum, ebenso wie Veränderungen im Heirats- und Reproduktionsverhalten und dem Wechsel ökonomischer Bedingungen. Wrigley(227) sieht den Grund für die markante Bevölkerungszunahme hauptsächlich in Veränderungen der Nuptialität.
Auch Turpeinen(228) vertritt die Meinung, dass die Inokulation kaum als wichtige Ursache oder gar als Erklärung für den Rückgang der Sterblichkeit und die Zunahme der Bevölkerung, die im 18. Jahrhundert in Europa festzustellen ist, herangezogen werden kann.
Die von Razzell(229) vorgebrachte These, dass dank der Inokulation
eine demographische Katastrophe ähnlichen Ausmasses wie im
Europa des 14. Jahrhunderts (durch den "Schwarzen Tod",
der Pest) verhindert werden konnte, und dass ohne Inokulation
anstelle der Industriellen Revolution eine anhaltende Stagnationsperiode
zu verzeichnen gewesen wäre, ist mit grösster Vorsicht
zu behandeln. Es liegt zuwenig konkretes Material vor, welches
einerseits bestätigen würde, dass eine Pandemie grössten
Ausmasses im Anmarsch begriffen war und andererseits ist man sich
über die Wirkung der Inokulation nicht schlüssig: hat
sie nun zum Absinken der Pockenmortalität beigetragen oder
hat sie die "Pockennoth" vergrössert?
Als wichtigste Punkte sind festzuhalten, dass es sich bei der Inokulation um ein Verfahren handelte, bei dem menschliches infiziertes Material meist direkt von Arm zu Arm geimpft wurde. Deshalb konnten im Anschluss an solche Impfaktionen auch Pockenepidemien auftreten. Vermutlich wurde durch die Inokulationen auch eine gleichmässigere Durchseuchung der Bevölkerung erreicht, wobei dies nicht unbedingt nur nachteilig gewesen sein muss, weil endemische Krankheiten weniger gravierende Folgen zeitigen als epidemische Ausbrüche, da bei solchen nicht nur leicht "reproduzierbare" Kinder betroffen waren, sondern ebenfalls die im aktiven Erwerbsleben stehenden Altersgruppen. Der Durchbruch der Inokulation in Europa erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der neuen Methode von Sutton. Erst ab den 1750er Jahren wurden Inokulationen - wenn auch nicht im grossen Stil - regelmässiger durchgeführt. Die durch dieses Schutzmittel bedingten demographischen Veränderungen lassen sich nicht quantifizieren, lediglich Vermutungen über dessen Auswirkungen können angestellt werden.
Der rapide Niedergang der Inokulation, meist bedingt durch staatliche Verbote, ging einher mit der Entdeckung und dem spektakulären Aufkommen der Jennerschen Schutzpockenimpfung zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Im Kanton Bern ist die erste Inokulation im Jahr 1757 nachgewiesen. Vor diesem Zeitpunkt scheinen keine bedeutenden Vorkehrungen zum Schutz vor den Pocken getroffen worden zu sein. Sie wurden als Krankheit angesehen, deren Kommen und Gehen unveränderbaren Naturgesetzen oder göttlichem Wirken zu gehorchen schien, auf jeden Fall ein unabwendbares Uebel, dass im 18. Jahrhundert in Bern vor allem Kinder betraf (vgl. Kap. 4.4.).
Geimpft wurde spätestens ab den 1770er Jahren regelmässiger, wie sich aus den überlieferten Aufzeichnungen nachvollziehen lässt. Angaben über Jahreszeit der Variolation und die Anzahl der Geimpften liegen nicht vor. Da die Impfungen aber nicht selten von medizinischen Laien und Quacksalbern praktiziert wurden, waren deren Folgen nicht unproblematisch, ja zum Teil sogar kontraproduktiv, wie sich aus den Erlassen von 1773, 1777 und vor allem 1804 sowie der "Anweisung zur Behandlung der Kuh- oder Schutzpocken" von 1804 folgern lässt. Zudem ist auffallend, dass die Pocken in den Totenrödeln(230), welche im Kanton Bern seit 1728 von den Pfarrherren geführt werden sollten, vor 1770 kaum verzeichnet werden. So wird eine "variolis" erstmals im Jahr 1746 in der Kirchgemeinde Biel erwähnt. Dabei verstarben im Mai 15, im Juni 17, im Juli 11 und im August nochmals 11 Menschen. Das zweite Mal werden sie erst 1752 wiederum in Biel aufgeführt. Nun dauert es 18 Jahre, bis sie 1770 erneut in den Totenrödeln erscheinen. Für dieses Jahr liegen Eintragungen in Kappelen, Ins, Siselen, Gsteig, Ringgenberg und Oberwil vor(231). Bis ins Jahr 1805 erscheinen die Pocken jetzt häufiger als Todesursache und meist werden Kinder als Opfer genannt(232). Was mögen die Gründe sein für das vermehrte Auftreten der Pocken als Todesursache in den Rödeln ab 1770? Entweder waren die Pocken vor der Mitte des 18. Jahrhunderts im Kanton Bern wirklich kaum vorhanden oder die Pfarrer führten die Todesursachen äusserst mangel- und lückenhaft. Ebenso können aufschlussreiche Rödel im Verlauf der Zeit verschollen oder zerstört worden sein. Vielleicht wurden die Pocken auch falsch diagnostiziert oder schlicht und einfach unter anderen Todesursachen subsumiert. Ebenso ist möglich, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgrund mangelnder Sensibilisierung der Zeitgenossen den Pocken gegenüber diese keine Aufnahme in die Totenrödel fanden, da es sich ja um eine sehr alltägliche Todesursache gehandelt haben kann, die zudem nicht verhindert oder durch aktives Zutun geheilt werden konnte. Mit der Kenntnis, der Möglichkeit und dem Aufkommen eines aktiven Schutzes gegen diese Krankheit könnte die Wahrnehmungsschwelle der Pocken gesunken sein, da nun Gründe vorlagen, sich aus der fatalistischen Haltung herauszubewegen und sich mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen. Oder das Gegenteil der ursprünglichen Absicht trat durch die Einführung der neuen Schutzmethode ein: die Pocken wurden erst jetzt im Kanton in grösserem Umfang verbreitet. Und schliesslich der trivialste, aber möglicherweise nicht unbedeutendste Grund: das mögliche Uebergehen von Pockenfällen bei der Quellenaufnahme von BERNHIST.
Vorweg ausgeschlossen werden soll jene Hypothese, die von der Annahme ausgeht, dass die Pocken vor 1750 im Kanton Bern nicht existierten (vgl. Kap. 4.4. sowie 5.1.). Als plausibelste Erklärung kann ein Gemisch der verschiedenen Erklärungsansätze angesehen werden. Der wichtigste Faktor dürfte dabei aber derjenige der Pfarrherren gewesen sein. Diese entschieden schlussendlich, ob überhaupt Eintragungen in die Totenrödel gemacht wurden und falls diese erfolgten, bestimmten sie deren Häufigkeit, Sorgfältigkeit und Genauigkeit(233). Einige Rödel sind sicher nicht mehr in unsere Zeit überliefert worden, dies reicht aber als Erklärung nicht aus, da bei sonst regelmässigen Eintragungen beim Fehlen eines Rödels lediglich eine Lücke in einer ansonsten annähernd kompletten Zeitreihe entstehen sollte.
Das Experimentieren mit der Inokulation leistete möglicherweise
einen Beitrag zur Verbreitung der Pocken, und die mit der Variolation
einhergehenden religiös und medizinisch motivierten Debatten
mochten die Führer der Rödel für dieses Thema unter
Umständen sensibilisiert haben, was sich wiederum in den
Eintragungen niederschlug. Weiter sind die Pocken gerade in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt aufgetreten(234),
was die grössere Anzahl der Pockenfälle - auch wenn
längst nicht alle registriert wurden - in den Rödeln
erklären kann. Man bleibt aber auf Spekulationen angewiesen,
da eine in sich konsistente Erklärung aufgrund der Quellenlage
ausgeschlossen werden kann.
Behandelt wurden die Kranken, welche sich einen Arzt nicht leisten konnten, häufig nach Angaben der Obrigkeit, die geleitet von den neuen Maximen des aufgeklärten Absolutismus sich sorgte um die Mehrung und das Wohl der Bevölkerung (wenn teilweise auch unter dem Aspekt der Vergrösserung der Steuereinnahmen). Zu diesem Zweck wurden beispielsweise die "Räthe, wie sich Gesunde und kranke Landleute bey herrschenden Krankheiten Ihrer Gesundheit halb betragen sollen"(235) publiziert, welche beim Auftreten von epidemischen Krankheiten vom Pfarrer nach jedem Gottesdienst von der Kanzel verlesen wurden(236). Der Erfolg dieser Ratgeber dürfte ebenfalls als bescheiden eingestuft werden, sie können aber als dritte Quelle dienen, da sie die Auffassung der damaligen Medizin und ihre allmähliche Veränderung widerspiegeln.
Auf die Entdeckung der neuartigen Impfung durch Edward Jenner
im Jahre 1796 soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen
werden, da zu diesem Thema bereits eine Vielzahl von Publikationen
existieren. Verwiesen werden soll lediglich auf die diesen Punkt
umfassend behandelnden Werke von Fenner, Smith, Hopkins und Razzell(237).
Die neuartige Methode zur Immunisierung gegen die Pocken, die Schutzpockenimpfung, wurde auch als "Vakkzination" (oder "Vaccination") bezeichnet. Durch die überwältigenden Erfolge, die mit diesem Schutzmittel erzielt wurden, fand die Impfung eine rasche Verbreitung in Europa und wurde 1807 in Bayern, 1810 in Dänemark, 1811 in Norwegen, 1812 in Böhmen und Russland, 1816 in Schweden, 1821 in Hannover und 1835 in Preussen(238) als obligatorisch erklärt(239).
Es handelte sich dabei um dasselbe Verfahren wie bei der Inokulation
mit dem wichtigen Unterschied, dass nun nicht mehr menschliche
Viren zur Anwendung gelangten, sondern der Pockenvirus der Kühe
auf den menschlichen Organismus via Hautläsionen übertragen
wurde. Die durch die Infektion mit der "humanisierten Lymphe"
erzeugte Krankheit verlief mild und verlieh ebenfalls eine Immunität
gegen die menschlichen Pocken. Geimpfte Patienten konnten im Gegensatz
zu Inokulierten die Krankheit nicht mehr weiterverbreiten. Der
Gründer der Berliner Impfanstalt, Dr. Bremer(240), beschrieb
den Verlauf der Schutzimpfung folgendermassen: "Die Kuhpockenimpfung
hingegen macht nicht krank, ein jeder Mensch kann seine Geschäfte
dabei überall verrichten. Sie hinterlassen keine Narben,
weil nur an dem einen Ort soviel Pusteln entstehen als Stiche
gemacht sind. Dies Gift steckt nur durch eine Hautwunde an; es
kann also nicht durch Luft, Athemholen, Kleidungsstücke und
andere leblose Körper, also nicht unwissend verschleppt,
nie epidemisch werden, also keine allgemeine Ansteckung entstehen,
und wenn man selbst bey einem Kuhpockenimpfling sich in ein Bett
legte und auch noch die Kuhpockenmaterie sich auf die ganze Haut
striche, so würde man dennoch nicht von dieser Krankheit
angesteckt werden. Man kann Kinder von allem Alter zu allen Zeiten
impfen. [...] Zu den Vorzügen der Kuhpocken gehört auch
noch, dass die Vaccinierten keiner besonderen Wartung und Pflege,
also keiner eigenen Wärterin bedürfen, was bey den natürlichen
und geimpften Kinderpocken [also der Variolation oder Inokulation]
so häufig der Fall ist, wodurch dem Staate jährlich
soviele 100'000 arbeitsame Menschen entzogen werden, sowie auch
nie jene ängstliche und kummervolle Erwartung über den
Ausgang der Kuhpocken statt findet; denn noch nie ist ein Mensch
an diesen gefährlich krank geworden, er müsste denn
zufällig von einer anderen Krankheit dabey befallen worden
sein, sowie noch kein Beispiel vorhanden ist, und aus unumstösslichen
Gründen erweislich gemacht worden, dass jemand an den wirklichen
Kuhpocken gestorben wäre." Wie aus Grafik 3 ersichtlich
wird, sollten bei einem idealen Verlauf der Vakkzination mit tierischem
Impfstoff fünf Tage nach der Infektion Veränderungen
an der Haut festgestellt werden können und ein etwa drei-
bis viertägiger Fieberschub erfolgen. Ab dem neunten Tag
sollte die Körpertemperatur absinken. Nach dem 15. Tag hat
dann die Verkrustung der nur schwachen Hautexantheme einzusetzen
und um den 23. Tag nach der Infektion ist die Impfung überstanden.
Vergleicht man den Verlauf der "Kuhpocken"-Erkrankung
mit denjenigen der normalen Pocken (Grafik 1) oder der Inokulation
(Grafik 2) sind markante Unterschiede im Krankheitsbild augenfällig.
Die Immunität, welche durch die Impfung mit dem Kuhpockenvirus erzeugt wurde, schützte jedoch nicht absolut und lebenslang wie in der euphorischen Anfangsphase der neuen Impfmethode zuerst fälschlicherweise angenommen wurde. Jenner, der Entdecker der neuartigen Kuhpockenimpfung, interpretierte die Resistenz gegenüber den Pocken nicht als immunologisches Phänomen, sondern als einen Wechsel in der individuellen Konstitution der Pockenresistenz, welche für die Dauer eines Lebens anhält. Bedingt durch diese falsche Annahme der lebenslänglichen Immunisierung durch einmalige Impfung trat ab Mitte der 1820er Jahre erneut eine europaweite Pandemie auf, die vermutlich auf das allmähliche Nachlassen der Immunität und das Ueberhandnehmen von pockenfähigen Menschen zurückzuführen ist. Nun wurde die Notwendigkeit der Revaccination erkannt(241). Vor der allgemeinen Akzeptanz und Durchführung der Wiederimpfung(242) bis Ende der 1820er Jahre wurden Erkrankungen bei geimpften Menschen jedoch interpretiert als Folge einer Impfung mit schlechter Materie oder einer ungenügenden Ausbildung des Ausschlages nach einer Impfung.
Komplikationen mit der Impfung konnten im Verlauf der Zeit ebenfalls
festgestellt werden. Problematisch war die Uebertragung des Impfstoffes
von Arm zu Arm, wie es zu Beginn der Impfaera bis in die 1870er
Jahre allgemein üblich war. Der Grund für diese Verimpfung
von Arm zu Arm liegt darin, dass es sich bei den Kuhpocken um
eine eher seltene Krankheit handelt, folglich bei Bedarf nicht
immer befallene Kühe zur Verfügung standen(243). Fand
man eine Kuh mit Pockenausschlag an den Eutern, wurde zuerst aus
den Pusteln Eiter auf einen Menschen übertragen, die sogenannte
"Humanisierung" der Lymphe.
Kuhpockenbild Gins
Abb. 5: Aquarell von 'natürlichen' Kuhpocken am Euter (um 1835)
Verwendet wurden dazu häufig auf ihren gesundheitlichen Zustand hin geprüfte Waisenkinder, die nach der erfolgten Uebertragung auf den menschlichen Organismus als lebendes Impfstoffdepot dienten und von deren Pusteln auf den Armen aus weitergeimpft wurde(244). Die gewonnene humanisierte Lymphe wurde danach in vielen weiteren Generationen immer wieder übertragen und benutzt. Mit der Impfung von Arm zu Arm konnten auch weitere sich im Blut der "Impfquelle" befindende Infektionen verbreitet werden. Vor allem Syphilis und Wundrose, aber auch die damals nicht diagnostizierbare Hepatitis B wurden durch Impfungen in verschiedenen Fällen auf andere Personen übertragen. Im Zusammenhang mit Impfungen konnten weitere Komplikationen(245) beobachtet werden, die zu einem grossen Teil sicher auf unhygienisches Vorgehen beim Impfen zurückzuführen sind. Die Impfung mittels Faden (an den nun "humanisierte" Lymphe angetrocknet war) wurde weiterhin betrieben, wie es schon bei der Inokulation üblich war, und die verwendeten Messer und Lanzetten wurden höchstens mechanisch gereinigt und konnten dadurch Wundinfektionen verursachen. In den 1860er Jahren ging man daher (auch im Kanton Bern) zur "Retrovaccination" über, dabei wurde mit von Kühen auf Menschen übertragener Lymphe erneut Kälber infiziert. Von diesen Tieren ausgehend wurde nun - anstelle der Arm-zu-Arm-Methode - direkt weitergeimpft.
Dass nicht nur dieser Methode (und den mit ihr einhergehenden
möglichen Folgewirkungen) mit Misstrauen und Ablehnung begegnet
wurde, scheint verständlich. In Kap. 3.3.2.3. werde auf die
der Kuhpockenimpfung entgegengebrachten Widerstände näher
eingetreten.
Abb6 Generalimpftag
Abb. 6: Holzschnitt aus Harpers Weekly, 23. April 1870. Generalimpftag in der Akademie der Medizin in Paris, bei der vom Kalb auf den Menschen geimpft wurde.
Die Pockenepidemie (vgl. Fussnote 233) der Jahre 1803 und 1804 in Bern bewog den Kleinen Rat am 4. Mai 1804 zur Einführung der Schutzpockenimpfung für Arme auf Staatskosten im Kantonsgebiet(246). Der Sanitätsrat erhielt die Order, dieses Anliegen vorzubereiten und zu regeln. Obwohl der Sanitätsrat sich bemühte, über Ausmass und Umfang(247) der herrschenden Epidemie Informationen zu erhalten, scheinen diese nicht eingereicht worden zu sein, da erstens kein Material überliefert wurde und zweitens in den Quellen immer wieder Klagen über mangelndes Anfertigen und Einsenden von Tabellen erscheinen. Mit der Einführung und der Regelung der Schutzimpfung für die Armen sowie der Auswahl der anzustellenden Impfärzte(248) wurden die beiden Doktoren Bitzius und Wyss vom Sanitätsrat beauftragt. So wurde schon am 15. September(249) der folgende Erlass publiziert: "Wir Praesident und Mitglieder des Sanität Raths des Cantons Bern. Nachdem Wir in Betrachtung gezogen, dass die Impfung der Schutzpoken, als Verhütungsmittel der Kindsblateren, seit ihrer Entdekung mit so gutem Erfolg und so vielem Nuzen betrieben worden ist, dass es zu wünschen wäre, es möchten sich alle Eltern von der Wohlthätigkeit derselben überzeugen, und nicht mehr anstehen, ihren Kindern die Vortheile dieses Schutzmittels, so früh als möglich, zukommen zu lassen; so machen Wir uns zur Pflicht, alle diejenigen, die es betreffen mag, zu ermahnen, diese Entdekung mit Vertrauen zu benuzen, und mit Zuversicht ein Mittel zu ergreifen, dass bereits kein Misstrauen mehr verdient. [...] Es sollen alle besteuerten Armen des Cantons, welche im Fall seyen davon Gebrauch zu machen, auf Unkosten des Staats geimpft werden; so machen wir hiemit bekannt: dass Wir in Vollziehung obigen Beschlusses durch den ganzen Canton eigene Armen-Impf Aerzte erwählt, und ihnen die Impfung armer Personen, jeweilen in dem Amtsbezirke, in welchem sie die Impf Aerzte wohnen, aufgetragen haben. Alle diejenigen armen Personen nun, welche diese Anstalten benuzen wollen, können sich mit einem schriftlichen Zeugniss von ihrem Herrn Pfarrer, oder einem ihrer Gemeindsvorsteher, dass sie nämlich wirklich besteuert werden, versehen, an einen der genannten Impf Aerzte wenden, und von demselben alle diessörtige Hülfe und Pflege erwarten." (250) Die Schutzimpfung war zu diesem Zeitpunkt im Kanton Bern also noch keineswegs obligatorisch. Durch die Regelung des Impfwesens und dem Einsetzen der sogenannten Armen-Impfärzte sollte lediglich die Pockenprophylaxe im Kanton Bern gefördert und verbreitet werden und die Erhaltung der Bevölkerung - im Sinne der "medicinischen Policey" - verbessert werden(251). Zur Unterstützung der Impfärzte wurden auch Impfstoffdepots eingerichtet, die an Glasplatten angetrockneten Impfstoff stets zur Verfügung halten sollten. Versand wurde das benötigte Material bei Bedarf nicht nur an die in Bern ansässigen Aerzte, sondern auch in die umliegenden Kantone und z.T. sogar ins Ausland (bspw. nach Turin). Der Staatsverwaltungsbericht für die Jahre 1814 bis 1830 erwähnt, dass im ganzen sechs Depots eingerichtet wurden, bei der Durchsicht der Impfberichte fanden sich jedoch nur Hinweise auf drei Depots: das Hauptdepot in Bern, sowie ein Nebendepot in Madiswyl und Langnau. Dasjenige in Madiswyl wurde zu einem späteren Zeitpunkt (in den 1840er Jahren) aufgegeben und nach Delsberg verlegt.
Die Beschaffung von frischem Impfmaterial, das grösseren
Erfolg bei der Durchführung der Impfung versprach als diejenige
mit an Fäden getrockneter Materie, war immer ein Problem.
Deshalb wurde auf die Meldung von Kuhpocken ursprünglich
eine kleine Belohnung ausgesetzt(252). Das die Beibringung von
Impfstoff jedoch als sehr wichtig angesehen wurde, scheint aus
den ausgesetzten Prämien für die Meldung von Kuhpocken
hervorzugehen: waren 1842 für deren Entdeckung noch 32 Franken
ausgeschrieben, wurde dieser Betrag im darauf folgenden Jahr auf
64 Franken verdoppelt. Die Impfanstalt war zudem bemüht,
eine Genealogie des benutzten Impfmateriales zu schreiben, um
dadurch mögliche Vorwürfe von Uebertragung anderer Krankheiten
durch die Vaccine genau überprüfen zu können. So
wurde von 1829 bis 1838 Impfstoff aus einer erneuerten Generation
natürlicher Kuhpocken (vermutlich durch Retrovaccination)
aus dem Württembergischen verwendet. 1835 misslang die Gewinnung
neuen Impfstoffes, welcher von einem Veterinär aus Wien zugestellt
wurde. Ab 1838 wurde Impfstoff, der als "primitive Lymphe"
erneuert worden war, aus dem Smallpox hospital St. Pancreas in
London verwendet und ab 1843 kam "primitive Lymphe aus der
Schutzimpfungsanstalt in Berlin"(253) zum Einsatz.
Die vom Kanton bestellten Armenimpfärzte wurden bei der Einführung der Schutzimpfung mit 10 Kreuzern(254) je gelungener Armenimpfung entlöhnt, was vielen dieser Aerzte scheinbar zu wenig war, wie aus dem Impfbericht für die Jahre 1804/05 des ersten Oberimpfarztes und Leiters der Impfanstalt für den Kanton Bern, Dr. Schiferli, zu erfahren ist: "Die Bezahlung der 10 Kreuzer ist den meisten zu gering im Verhältnis zu der Mühe; sie impfen daher niemals wenn nur einzelne Kinder bereit sind, sondern warten bis sie eine Anzahl beisammen haben die ihre Mühe und ihren Gang bezahlen kann." (255) Die Bequemlichkeit der Aerzte war aber nicht das einzige Problem in der Frühphase des organisierten Impfens. Es war vor allem die von den eingesetzten Impfärzten zu führende Kontrolle(256) der Impfungen und der Vorkommnisse, die über Jahre hinweg zu Klagen Anlass gaben. Wenn sie überhaupt nachgeführt und eingesandt wurden, waren sie häufig nicht komplett(257). Der jeweilige Oberimpfarzt des Kantons hatte aus diesen eingereichten Aufzeichnungen jährlich eine Generaltabelle zu erstellen. Diese musste dann zusammen mit einem Generalrapport dem Sanitätsrat vorgelegt werden, welcher wiederum den Kleinen Rat zu informieren hatte.
Aufgrund verschiedener Probleme wurde 1806 im Impfwesen einige Aenderungen durchgeführt. Vor allem wurde das Impfen dem nichtmedizinsches Publikum nun definitiv untersagt und den patentierten Aerzten übertragen und die Armenimpfung sollte besser entlöhnt werden. Die fleissigsten Impfärzte erhielten nebst der Entschädigung für die an Armen erfolgten Impfungen, welche bis etwa ins Jahr 1860 immer einen Anteil von ca. 40 bis 50% aller Impfungen ausmachten und in einigen Jahren diese Grenze auch weit überschritten, nun Prämien von 16 bis 24 Franken. Zudem wollte der Sanitätsrat in einem gross angelegten Projekt die Wirksamkeit und Verbreitung der Pockenimpfung untersuchen. Zu diesem Zweck wurde mit Hilfe der Pfarrer versucht, ein Verzeichnis aller im Kanton vaccinierten und nichtvaccinierten Kinder zu erstellen(258). Diese "mit einem Aufwande von mehreren tausend Franken zu Stande gebrachte Aufzeichnung"(259) ist aber für den ihr zugedachten Zweck leider nicht brauchbar, wie bei der Einsichtnahme im Staatsarchiv Bern(260) festgestellt wurde, da wohl höchstens die Hälfte der ursprünglich beabsichtigten Daten aufgenommen wurden. Auch in diesem Fall ist die Klage über das nachlässige und schlechte Erstellen und das entweder verspätete oder ganz unterlassene Einsenden der Tabellen durch die Pfarrherren zu finden(261). Und "deren Zweckmässigkeit [ist] sehr zu bezweifeln, so lange mit der Nicht-Vaccination keinerlei Ahndung verbunden, und die Vaccination auf keine Weise zu befehlen war." (262) Die Impfung war wie schon erwähnt freiwillig und auf das Wohlwollen und Gutdünken der Eltern angewiesen. Der Widerstand und die vielen Vorurteile gegen die Impfung verhinderten denn auch deren rapide Verbreitung, wie in Kap. 3.3.2.3. noch sehen sein wird. Die Obrigkeit war sich dieses Problems bewusst, wurden die angehenden Impfärzte in der "Instruktion für die patentirten Aerzte und Wundärzte des Cantons Bern"(263) zu folgendem aufgefordert: "Alle patentirten Aerzte und Wundärzte verpflichten sich, die Impfung der Schutzblattern allenthalben zu verbreiten, alle dawieder herrschenden Vorurtheile zu bekämpfen, und die Eltern für ihre Kinder zu selbiger aufzumuntern, ohne jedoch jemand, auf welche Art es immer sey, zu selbiger zu zwingen." Auch als 1827 eine neue Kreisimpfordnung(264) erlassen wurde - übrigens nach jahrelangen Beschwerden über die schlechte Organisation des Impfwesens durch den 1819 eingesetzten Oberimpfarzt Karl Flügel(265) - sah man immer noch von einem Obligatorium der Pockenimpfung ab, welches von vielen Aerzten gefordert wurde(266).
Die Aerzte wurden in der Instruktion von 1804 weiter angewiesen, misslungene Impfungen zumindest zweimal zu wiederholen und nur die gelungene zu berechnen. Ebenfalls wurden sie zur Führung der Kontrollen angehalten. Sie sollten auch darauf achten, möglichst zu verhindern, Impfungen mit getrocknetem Material durchzuführen, und in erwähntem Fall nicht mehr als zwei Monate alten Stoff zu verwenden. Jedoch sollte keine Gelegenheit ausgelassen werden, guten Impfstoff von gesunden Menschen auf Gläsern zu sammeln und zu trocknen(267). Schliesslich sollte bei schwierigen Impfungen beim Oberimpfarzt in Bern Rat eingeholt werden. Den Aerzten wurde zusätzlich die "Anweisung zur Impfung und Behandlung der Kuh oder Schutzpocken"(268) ausgehändigt, in der die Impfung betreffende Regeln und Erkenntnisse festgehalten waren. Es wird darauf hingewiesen, dass die Schutzpocken völlig gefahrlos seien und lebenslänglich vor einer Ansteckung durch die Pocken schützen würden. Empfohlen wird die Impfung bei jungen Kindern: "Wie jünger die Kinder sind, desto bequemer sind sie zu impfen, desto sicherer gelingt die Impfung, und desto gelinder geht alles vorüber." Von vorbereitenden Massnahmen, wie etwa Laxieren, welches bei der Inokulation noch üblich war, wird abgeraten. Die Impfung selbst hat folgendermassen zu geschehen: "Man macht mit einer Lanzette an beyden Ober-Armen des Impflings, an einer Stelle die am wenigsten von den Kleidungsstücken gedrückt wird, eine oder zwey nebeneinander stehende, ungefähr 3 Linien lange Ritzen, welche nicht tiefer seyn dürfen, als dass höchstens eine Spur von Blut durch selbige ausschwizt. - Neben sich hat der Impf-Arzt das Kind, von welchem er den Impfstoff nehmen will. Er macht einige leichte flachgehende Stiche in eine von desselben Schutzblattern, so dass die in selbiger enthaltene Flüssigkeit ausseigert. Diese fasst er nun mit der Lanzette auf, und streicht sie einige Male nacheinander auf die Einschnitte des zu impfenden Kindes, indem er zugleich mit der andern Hand die Haut des Arms ein wenig anspannt, so dass sich die Wundlefzen der Einschnitte etwas öffnen. Ist die Flüssigkeit einigemale eingestrichen worden, so lässt er die Arme noch einige Minuten entblösst, bis die Impfstelle trocken ist, und nun ist die Impfung geschehen. Ist der Impf-Arzt genöthigt, wegen Mangel an frischem flüssigem Stoff sich eines getrockneten, aufbewahrten zu bedienen, so macht er den auf Glasplatten eingetrockneten Impfstoff, mit der in lauwarmes Wasser getauchten Lanzettenspitze, weich, oder schabt auch denselben geradezu mit der Lanzette vom Glase ab, und streicht ihn trocken in die Impfwunde." Wie wir sehen, ist man von einigen bei der Inokulation praktizierten schädlichen Massnahmen abgekommen und die Operation erscheint nicht mehr so gravierend und furchteinflössend, wie es bis in die 1760er Jahre vor Suttons neuer Methode allgemein üblich war (wobei nach diesem Zeitpunkt die Inokulation sicherlich in mehreren Fällen bis ins 19. Jahrhundert hinein immer noch nach der alten Methode vorgenommen wurde). Im folgenden werden noch die Symptome der "wahren Schutzpocken-Krankheit", wie man sich bei nicht eindeutigen Zeichen verhalten soll etc. erläutert. Bei gewöhnlichem Verlauf "erfordert die Schutzpocken-Krankheit gänzlich keine innerliche medizinische Behandlung. Grössere Kinder gehn, wenn die Witterung es immer erlaubt, draussen herum, vermeiden aber dabey jede ungewöhnliche Erhitzung oder Erkältung, und enthalten sich höchstens während der Dauer der Fiebertage, in etwas des Genusses von Fleisch und Wein." Auch hier ist der signifikante Unterschied bei der Behandlung der Impflinge im Gegensatz zur Periode der Inokulation offensichtlich, da auf die aufwendige Behandlung vor, während und nach der Impfung nun verzichtet wurde.
Wie schon erwähnt, wurden die anzustellenden Impfärzte 1804 von den mit der Einführung und Regelung der Schutzimpfung beauftragten Aerzten Bitzius und Wyss ausgewählt. Die vorgeschlagenen Doktoren wurden in ihrem neuen Amt vom Sanitätsrat bestätigt. 1804 waren 48 Aerzte eingestellt worden. Schon nach der ersten Periode, im Januar des folgenden Jahres, gelangten nur von 38 Aerzten die Tabellen zur Einreichung! 1835 machten die Behörden bekannt, dass "wegen der saumseligen Einsendungen der Impftabellen von Seite der Aerzte"(269) in Zukunft nur noch diejenigen Aerzte entschädigt würden, welche ihre Tabellen fristgerecht einreichten. Ob diese Drohung ihren Zweck erreicht hat, ist fraglich, da auch in den folgenden Jahren immer noch Beschwerden über das zu späte Einreichen der Tabellen zu finden sind.
Im Jahr 1811 wurden 57 Aerzte registriert und 1819 62 (vgl. Grafik
4). Erstmals wurden auch zwei Hebammen erwähnt, die ebenfalls
zur Impfung berechtigt waren. 1823 wurde ein erster Gipfel erreicht
mit 75 Aerzten und 9 Hebammen. Nach dem Ueberwinden der folgenden
Talsohle wurde 1825 im Angesicht einer drohenden Pockenepidemie,
die in ganz Europa verbreitet war, der Höchststand für
viele Jahre erreicht. Es wirkten insgesamt 104 Personen, 77 Doktoren
und 27 Hebammen. 1826 wurde der Höchststand von 29 impfenden
Hebammen ausgewiesen. 1827 wurden immer noch 73 Aerzte und 27
Hebammen gezählt, im nachfolgenden Jahr sank diese Zahl aber
auf 71 Personen ab (60 Aerzte und 11 Hebammen). Die sich in Europa
über einige Jahre hinziehende Pockenepidemie griff in diesen
Jahren - unter Umständen auch wegen den vielen Impfungen
- nie mit voller Gewalt auf den Kanton Bern über, was diverse
Aerzte wieder vom Impfen abgehalten haben könnte. Zudem gab
es gerade in dieser Zeit Probleme mit impfenden Hebammen zu verzeichnen
und man erteilte ihnen nicht mehr ohne weiteres die Berechtigung
zur Impfung(270), was bei ihnen als einer von mehreren Gründen
den Rückgang zu erklären vermag. Trotz der zweitschwersten
Pockenepidemie des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern in den Jahren
1831/32 stagnierte die Zahl der Impfärzte bis ins Jahr 1840,
wo der absolute Tiefstand von 41 impfenden Personen (39 Aerzte
und zwei Hebammen) verzeichnet werden musste. In diesem Jahr gab
es eine Neuregelung und der Beschluss wurde gefasst, für
Hebammen keine Impfkurse mehr durchzuführen und ihnen keine
Bewilligungen mehr zu erteilen. Ab 1849, als die Impfung im Kanton
Bern obligatorisch erklärt wurde, gab es überhaupt keine
impfenden Hebammen mehr. Dafür wirkten nun 102 Aerzte, welche
aufgrund des neuen Impfgesetzes immer für eine Periode von
vier Jahren gewählt wurden. Der Höchststand an eingesetzten
Impfärzten wurde 1899 mit 131 Personen erreicht.
Grafik 4 aerzte.sas
Nebst den immer wiederkehrenden Klagen über Nachlässigkeiten
in der Buchführung des Impfpersonals erschienen häufig
Beschwerden über die Hebammen, welche Impfungen nachweislich
seit 1819 durchführten. Zwar wurde noch 1825 die in diesem
Jahr grosse Zahl der Impflinge (vgl. Kap. 3.3.2.4.) unter anderem
darauf zurückgeführt, "als besonders Hebammen von
Haus zu Haus gehen, um die Eltern zur Impfung ihrer Kinder aufzufordern,
da dieselben oft ohngeachtet der Publikation von der Kanzel, nicht
erscheinen, da gerade in dieser ärmeren Classe von Leuten
sich die grösste Gleichgültigkeit und Vorurtheile gegen
die Vaccine vorfindet." (271) Aber schon im "Bericht
über die Schutzpockenimpfung und Impfanstalt während
dem Jahr 1832" beklagt sich der damalige Oberimpfarzt Karl
Flügel über die Arbeit der Hebammen, und ihre zuvor
noch gelobte Ueberredungskunst erscheint in einem äusserst
zweifelhaften Licht: "Früher wurde das Impfgeschäft
auch von vielen Hebammen verrichtet, denen eine Impfbewilligung
aus einem sehr einseitigen Grund ertheilt worden ist, allein in
der Regel impften sie nicht mit Sachkenntniss, indem sie unfähig
waren den Verlauf und die Kennzeichen einer guten oder falschen
Vaccine zu unterscheiden. - Diese Hebammen konnten nun allerdings
durch ihr Geschwätz manche Mutter zur Impfung ihres Kindes
bewegen, was vielleicht dem Impfarzte nie gelungen wäre,
und impften nun überall wo sie hinkamen, wodurch sie zuweilen
eine ordentliche Anzahl von Impflingen zusammenbrachten, unter
denen vorzüglich viel Arme, unter welchen sich oft auch ihre
eigenen Kinder befanden; dass nun einige derselben seit der Einführung
der Impfkreisärzte zurückgeblieben sind, weil sie für
die Armenimpfung nicht bezahlt werden, kann eher zum Frommen des
Impfwesens angesehen werden, da aus obbemeldten Gründen ohnehin
schon keine neuen Bewilligungen zum Impfen ertheilt werden."
Gestützt auf die Kreisimpfordnung von 1827 erhielten nur
noch die eingesetzten Impfkreisärzte eine Entschädigung
von fünf Batzen für eine Armenimpfung und nichtautorisierte
Personen gingen leer aus. Wie es scheint, waren diese fünf
Batzen bis zu diesem Zeitpunkt eine Motivation für einige
Hebammen, ihren Lohn durch Impfungen an möglichst vielen
Armen - ungeachtet ihrer Kenntnisse und ihres Könnens - aufzubessern.
Der Wegfall dieser Entschädigung kann auch den massiven Rückgang
der impfenden Hebammen von 27 im Jahr 1827 auf 11 im Jahr 1828,
auf 9 1829, auf 7 1830, auf 4 1832 und auf 2 1835 erklären.
Im "Bericht über die Schutzpockenimpfung und Impfanstalt
während dem Jahr 1835" weist der damalige Oberimpfarzt,
Dr. Fischer, darauf hin, dass es vor allem die Tabellen der Hebammen
waren, die in diesem und früheren Jahren unvollständig
und mit mangelnder Sachkenntnis geführt worden seien. Fischer
schreibt, dass die im Impfgeschäft tätigen Hebammen,
"welche vor ungefähr 15 Jahren, von einer durch die
Erfahrung keineswegs bestätigten Ansicht ausgehend, über
das Impfgeschäfte eine Art Instruktion und eine darauf gestützte
Autorisation erhielten; allein das Unzweckmässige dieser
Massregel und die Unmöglichkeit richtige Resultate von den
Hebammen über den Verlauf und Erkenntniss der verschiedenen
Kuhpockenarten zu erhalten, hat sich mit jedem Jahre erwiesen,
so dass mit Ertheilung neuer Instruktionen und Autorisationen
bald aufgehört wurde, daher nur noch einige wenige Hebammen
zur Vaccination eine Erlaubnis haben, und zwar vorzüglich
in Gegenden, wo die Aerzte im Allgemeinen wenig Interessen für
das Impfwesen an Tag legten." War es wirklich so, dass die
Hebammen im Allgemeinen über ungenügende Sachkenntnis
bezüglich des Impfens verfügten oder von den Aerzten
lediglich aus diesem Geschäft(272) verdrängt werden
sollten? Die dauernden Klagen der Oberimpfärzte sprechen
eigentlich für die erste Hypothese. Doch auch das sich immer
mehr entwickelnde ärztliche Standesbewusstsein könnte
der Grund gewesen sein, den in der medizinischen Hierarchie weiter
unten stehenden Hebammen das Impfen zu erschweren und schliesslich
zu untersagen. Am Ruhm, über die Pocken triumphiert zu haben,
sollten ausschliesslich die ausgebildeten Aerzten teilhaben. Dass
die Hebamme den ihr von den Aerzten zugedachten Platz einnehmen
sollte, ist aus der folgenden Bemerkung Dr. Fischers zu entnehmen:
"Wenn es nun einen Theils nicht rathsam ist, den Hebammen
das Impfgeschäft anzuvertrauen, so könnten sie hingegen
wohlthätig wirken, indem sie den Aerzten an Impftagen, durch
Halten der Kinder und öftere Besorgung der Mütter behülflich
sein könnten, da der Arzt oft durch ungeschicktes Halten
der Kinder und durch Uebelbefinden der Mütter in ziemliche
Verlegenheit gerathen kann." Ab 1840 wurden den Hebammen
definitiv keine Patente zur Impfung mehr erteilt und in diesem
Jahr musste sogar eine Hebamme im Amt Frutigen vor dem Richter
erscheinen, weil sie ohne Autorisation geimpft hatte(273).
Die Hebammen wurden also schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Impfwesen verdrängt. 1819 erstmals dazu berechtigt, verrichteten sie angesichts der drohenden Pockenepidemie in den Jahren 1825 bis etwa 1830 viele Impfungen. Schon 1827 wurden sie durch die geänderte Impfordnung aber vom Impfen abgehalten und spätestens mit dem neuen Impfgesetz von 1849 verschwand auch die letzte impfende Hebamme im Kanton Bern.
Im Kanton Bern wurde die neue Schutzmethode gegen die Pocken nicht mit einhelliger und ungeteilter Freude aufgenommen. In der Frage der Schutzimpfung kam es zu einer eigentlichen Polarisation in die Gruppe der der Impfung wohlgesinnten Menschen und die Gruppe mit einer der Impfung gegenüber ablehnenden Haltung. Eine Zuordnung aufgrund der sozialen Stellung zu einer der beiden Gruppen lässt sich nicht durchführen, da die Gegner sowohl in der reichen, oberen Schicht wie auch bei den armen Teilen der Bevölkerung zu finden waren. Auch viele Aerzte sprachen sich klar gegen die Schutzimpfung aus, und ob die Behauptung des Oberimpfarztes Flügel, dass "gerade in dieser ärmeren Classe von Leuten sich die grösste Gleichgültigkeit und Vorurtheile gegen die Vaccine vorfindet"(274), wirklich zutrifft oder es sich dabei nur um eine Unterstellung den Armen gegenüber handelt, lässt sich nicht genau eruieren. Auf jeden Fall wurde der Impfschutz während beinahe des gesamten 19. Jahrhunderts zu einer Glaubensfrage hochstilisiert.
Die Argumente, welche gegen die Pockenimpfung vorgebracht wurden, deckten ein weites Spektrum ab. Vielfach war es wie auch bei der Inokulation Ablehnung aus religiösen Gründen. Es wurde als Sünde angesehen, sich der Vorsehung Gottes durch einen Schutz gegen die Pocken zu entziehen. Waren die Blattern jemandem von Gott zugesprochen, durfte er sich ihnen nicht entziehen. Es gab jedoch auch Teile der Kirche, die sich stark für die Impfung engagierten. So führten beispielsweise in Italien Priester Impfprozessionen an, in Böhmen appellierten Geistliche an die Verantwortlichkeit der Eltern, die Impfung nicht zu vernachlässigen und in Deutschland, England und der Schweiz wurden z. T. sogar Impfungen von Pfarrern selbst durchgeführt. Schliesslich wurde die Vaccination 1814 vom Papst während einer Pockenepidemie in Rom ausdrücklich gutgeheissen(275).
Teilweise lässt sich die skeptische Haltung der Impfung gegenüber mit den noch nachwirkenden schlechten Erfahrungen erklären, welche mit der Inokulation gemacht wurden. Eine Rolle dürften ebenfalls die von Laien mangelhaft durchgeführten Impfungen gespielt haben, die mit Komplikationen endeten, oder, ohne davon Kenntnis zu haben, keine Immunisierung bewirkten(276). Hinzu kam, dass die Immunität entgegen der ursprünglichen Annahme nicht lebenslänglich anhielt, sondern - wie in einem schmerzhaften Prozess in den 1820er Jahren festgestellt werden musste - lediglich zwischen 15 und 20 Jahren. Dadurch konnten die mangelhaft geimpften Personen oder diejenigen, bei welchen die Impfung schon einige Jahre zurücklag, immer noch oder auch wieder an den Pocken erkranken. Dass diese dann, wenn sie die Infektion überlebten, die Wirksamkeit in Frage stellten, ist einsichtlich. Ein weiteres Argument gegen die Impfung war die Befürchtung, dass durch sie verschiedene Krankheiten (Syphilis, Blutvergiftung und vor allem der gefürchtete "Impfrothlauf"(277), aber auch Tuberkulose) übertragen werden konnten. Es gab zwar nachweisliche Fälle von Syphilisinfektionen durch Impfungen(278), jedoch waren diese sehr selten zu verzeichnen, wurden aber stark publizistisch ausgenutzt. Die Ablehnung beruhte vielfach auch nur auf Vorurteilen und dem Unglauben, wie eine von den Kühen stammende Krankheit den Menschen schützen kann. Die folgende Meinung, welche notabene noch 1871 in der "Nordhäuser Tagespresse" zur Veröffentlichung gelangte, erfreute sich bei den Gegnern der Impfung allgemeiner Beliebtheit: "Wer will beweisen, dass das Einimpfen eines ekelhaften, von der Natur aus dem kranken Körper [...] Eitergiftes dazu geeignet sei, vor einer Krankheit zu schützen? Warum impfen die Herren nicht Masern und Syphilis? Wir Laien wollen Euch sagen, wie man sich vor den Pocken und überhaupt allen Krankheiten hüten kann [...] durch frische Luft, gutes Trinkwasser, saubere Schlafstätten, mässig in allen Genüssen." (279)
Es finden sich auch viele zeitgenössische Karikaturen auf
die Schutzpockenimpfung, die die "Verkuhung" der Menschheit
darstellen. Abb. 7 zeigt eine dieser Zeichnungen: Der impfende
Arzt ist Jenner selbst. Die armen Patienten drängen durch
die Türe herein und werden mit einer auf dem Korpus stehenden
"Opening mixture" versorgt, vermutlich ein Abführmittel,
welches vor der Impfung verabreicht wurde. Im Zentrum des Bildes
wird an einer ängstlichen Dame die Impfung gerade durchgeführt,
während ein armes Schulkind einen Eimer mit der Aufschrift
"Vaccine Pusteln heiss von der Kuh" ("Vaccine Pock
hot from ye Cow") für Jenner bereithält. Auf der
rechten Seite sind die bereits geimpften Patienten zu sehen. Ihnen
wachsen als Folge der Impfung mit Kuhpockenstoff Kühe aus
allen möglichen Körperteilen und die Bildung von Hörnern
ist bei der zweiten Frau von rechts Feststellbar. An der Wand
hängt ein Bild, dass knieende Götzendiener zeigt, welche
das goldene Kalb auf der Statue anbeten.
Abb 7. WHO Smith S. 101
Abb. 7: "The Cow-Pock - or - the Wonderful Effects of the New Inoculation!" Eine Karikatur der Impfung am Londoner Pockenspital vom 12. Juni 1802.
Auch in Abb. 8 sind viele der Pockenimpfung gegenüber vorgebrachten
Vorurteile und Aengste enthalten. Ein Monster symbolisiert die
neue Behandlung. Sein Körper, die Hörner, der Schwanz
und die Hinterfüsse sind kuhähnlich, aber der Mund gleicht
demjenigen eines Krokodiles, die vorderen Füsse sind katzenartig
und die Ohren gezackt. Die Wunden auf dem Körper sind beschriftet
als "Pestilence", "Plague", "Fastid Ulcers"
("schwere Geschwüre"), "Leprosy" und
"Pandoras Box". Auf der linken Seite schütten mit
Kuhhörnern und -schwänzen versehene Doktoren körbeweise
Neugeborene in den Schlund des Monsters. Auf der rechten Seite
werden die Säuglinge mit Hörnern und Schwänzen
wieder ausgeschieden. Dort werden sie von einem weiteren Arzt,
welcher auf einem Buch namens "Lectures on Botany" steht,
auf einen Mistkarren geschaufelt. Die Impfgegner, fünf Männer
mit Schwert und Schild, sind im Hintergrund vom "Tempel des
Ruhmes" heruntergestiegen.
Abb 8 Smith S. 100
Abb. 8: "Vaccination", Karikatur vom Juni 1802.
Die Obrigkeit war jedoch der Meinung, mit der Schutzimpfung ein
probates Mittel im Kampf gegen die Pocken in der Hand zu haben.
Von einem Obligatorium der Impfung wurde aber zunächst abgesehen
(vgl. Fussnote 266), man suchte lediglich die Verbreitung der
Impfung voranzutreiben und sie "zu empfehlen".
Um das Volk vor den vielen Quacksalbern zu schützen und der Schutzimpfung zum Durchbruch zu verhelfen, wurde Jeremias Gotthelf im Januar 1842 von der Sanitätskommission angefragt, "ob es nicht zweckmässig sein möchte, in einer populären Schrift das Volk auf die medizinischen Pfuscher im Kanton aufmerksam zu machen und vor den Gefahren, die ihm daher drohen, mit Nachdruck zu warnen." (280) Gotthelf erklärte sich bereit, diesen Auftrag zu übernehmen, wenn Prof. Emanuel Fueter die Redaktion des medizinischen Teils besorge(281). So entstand mit der fachlichen Unterstützung Fueters der Roman "Anne-Bäbi Jowäger", welcher klar für die Schutzimpfung eintrat und mit den alten Pockenbehandlungsmethoden hart ins Gericht ging. Als der kleine Jakobli in "Anne-Bäbi Jowäger" an den Pocken erkrankt war und die Nachbarin vorbeikam, welche, "sobald sie ihn sah, schrie: 'Herr Jeses, Herr Jeses, das sind ja die rechten Blattern oder dKindsblattern, wie man ihnen allbets gesagt hat. Habt ihr ihm die Kuhblattern, oder wie man ihnen sagt, nicht geben lassen, wo er noch jung gewesen ist?' 'He, was du nicht sagst, Mareili', antwortete Anne Bäbi, 'das kann nicht sein, das kann wäger nicht sein. Mein Jakobeli kann die Blattern nicht haben, er hat sie wäger nicht, ich wüsste gar nicht, wo er sie aufgelesen haben sollte; es hat sie ja niemere zentum, und so von selbst wüsste ich nicht, wie sie kommen könnten.' 'He, es muss sie wäger immer jemand zuerst haben; aber es ist möglich, dass ich mich irre, und wenn er geimpft ist, so wird es wohl sein', sagte Marei, die Nachbäurin. 'Ja, eben nicht', sagte Hansli, 'dBlattern haben wir ihm vom Doktor nicht geben lassen, es ist nicht der Bruch gewesen in unserem Haus; der Aetti hat es nicht getan und der Grossätti nicht und niemere, so wyt me si hingerbsinne cha. Und do hei mer gmeint, ds Anne Bäbi un ih, es werd öppe nit nötig sy, und wenn niemere vo üs dra gstorbe syg, so wüssten wir gar nicht, warum es unserem Kind etwas tun sollte, und es wäre doch auch schrecklich, wenn wir das arme Kind so unnötig plagen würden und so mutwillig wären und es krank machten für nüt und wieder nüt, und da hat es sich nie welle schicke, und so ist die Sache unterwege bliebe.'"(282) In diesem Ausschnitt wird das Unterlassen der Impfung angeprangert, die Schuld am Erkranken von Jakobli wird den verstockten Eltern zugewiesen, die aus drei damals häufig beobachteten Gründen die Impfung nicht durchführen liessen:
1. Der traditionelle Grund: da bis zu diesem Zeitpunkt niemand in der Familie geimpft wurde, wird die Impfung auch jetzt nicht gemacht.
2. Die falsche Sorge um das Kind, das man nicht mutwillig mit einer Krankheit anstecken will.
3. Falls man es sich doch überlegt hatte, die Impfung vornehmen zu lassen, ergab sich gerade keine Gelegenheit, wurde zu diesem Zeitpunkt kein Impftag durchgeführt. Und da die Ueberzeugung und der Wille zur Impfung nicht allzu gross war, bemühte man sich auch nicht weiter darum und liess diese Angelegenheit auf sich beruhen.
Mit fortschreitender Dauer, als die Krankheit Jakoblis in der
Umgegend bekannt wurde, kamen immer mehr Menschen, um sich den
entstellten Kranken anzusehen: "Und dazu sagten alle Leute,
welche kamen: 'Aber Herr Jeses, davor hättet ihr sein können,
warum liesset ihr ihn nicht impfen? Aber jetzt ist nichts anders
zu machen, da muss gestorben sein [...] Als die Leute immer zahlreicher
kamen und jeder ein neu Mittel angab und doch jeder fragte: was
für einen Doktor sie hätten, so sagte endlich Mädi
zu Hansli: es werde eine zueche müesse [...] Mädi schickte
Sami, und der Doktor kam. Sobald er Jakobli sah, sagte er: Vor
dem hätten sie sein können, und er begreife nicht, wie
Eltern ihren Kindern solches Leid antun mögen, wenn sie es
ihnen doch ersparen könnten. Jetzt sei nicht mehr viel zu
machen. Mittel gebe er keine, zu trinken sollten sie ihm geben
nach seinem Bedürfnis, Haberkernenbrühe und Eibischtee
mit Süssholz. So viele Leute sollten sie nicht in der Stube
haben, das mache dem Armen nur Angst, und finster sollten sie
machen, und machen, dass keine Fliegen in die Stube kämen.
[...] 'Bhüet ech Gott, lebet wohl und schicket mir die Leute
fort, macht kühl im Stübli und jagt die Fliegen aus',
sagte der Doktor und ging. [...] Mädi räsonierte und
sagte: Der wisse doch aller Himmelswelt nichts, nicht einmal ein
Tränkli wüsste er zu geben, so könnte es auch doktern.
Wenn es nichts sei, so hätten sie ein Brüll vom Tüfel,
dass man meinen sollte, was sie wären, und wenn dann Not
an Mann wäre, so wären sie grad wie Oelgötzen,
und ob man deren hätte oder Dokter, es komme gerade ins Gleiche.
Aber da müsste etwas gemacht sein, so könnte man die
Sache nicht gehen lassen. Nun machte aber Mädi von dem nichts,
was der Doktor sagte, als dass es dem Kranken brav zu trinken
gab. Aber nicht Habermuss, sondern Melissen- oder Holdertee. Hingegen
je mehr Leute kamen, um so lieber war es ihm, und je heisser es
in der Stube ward, um so mehr deckte es den Jakobli zu. [...]
Und wenn es dann die Leute frugen, was es mache, so gab es Bericht
wie es Jakobli salbe, und alle halbe Stunde mit etwas anderem,
und es düeche ihns, es tue ihm bsonderbar wohl. Das fanden
die Leute recht gut, und jeder wusste noch etwas; die einen meinten,
süsser Anken wäre gut, andere gaben dem Schmer den Vorzug;
einer hatte eine bsonderbar gute Augensalbe, welche er bringen,
und einer ein berühmtes Augenwasser, das er schicken wolle,
und zuletzt frug dann Hansli wohl noch, was sie meinten, wie Wagensalb
wäre, das sei sonst bsonderbar heilsam. Und wenn dann so
Rat gehalten worden war, so betete dies und betete jenes, und
Anne Bäbi jammerte, und alle Augenblicke machte jemand die
Türe auf, und die Fliegen surrten hinein, und alle Augenblicke
machte man den Umhang weg, um den Jakobli zu zeigen, und das scharfe
Licht fiel auf das unkenntliche Gesicht." (283) Die von Gotthelf
gezeichneten Figuren sind zwar stark karikiert, den Nerv der Zeit
scheint er aber getroffen zu haben. Gotthelf weist immer wieder
darauf hin, dass durch eine Impfung Jakobli nicht erkrankt wäre.
Angeprangert wird auch, dass nach dem Ausbruch der Pocken zu lange
kein Fachmann beigezogen worden ist und mit verschiedenen Mitteln
am Kranken experimentiert wurde, welche eine starke kontraproduktive
Wirkung zeitigten. Der schliesslich doch noch konsultierte Doktor
erscheint als ein vitalistischen Konzepten zugeneigter Arzt, als
vorsichtig abwägender Beobachter, der kaum in den Krankheitsverlauf
eingreift und in einem Anflug von Resignation sogar auf die Verordnung
von Heilmitteln verzichtet. Er erhebt lediglich Vorwürfe
wegen der unterlassenen Schutzimpfung. Demgegenüber steht
das den Jakobli aufopfernd pflegende Mädi, in welches die
herrschende Dummheit und Ignoranz projiziert wird, in der Hoffnung,
dass durch die einfache Sprache und die deutlichen Bilder sich
das kurpfuschende Volk in Mädi wiedererkennt. Dieses begeht
alle nur möglichen Sünden: es widersetzt sich den Anordnungen
des erfahrenen Doktors, die Leute werden scharenweise eingelassen
(da den Pocken die soziale Stigmatisierung fehlte, gab es immer
wieder viele Schaulustige im Krankenzimmer, vgl. Kap. 2.4.3.),
Jakobli wird im geheizten Raum auf die "heisse" Art
behandelt und die damals gebräuchlichen Salben, welche Mädi
im Uebermass verwendet, konnten bedingt durch hohe Quecksilberkonzentrationen
sogar toxische Eigenschaften aufweisen. Zusätzlich zu den
Salben wird jedes nur mögliche Mittelchen an Jakobli ausprobiert,
sei es das von Quacksalbern angebotene Augenwasser über süsse
Butter bis hin zur Wagenschmiere. Und wie zu erwarten war: "Aber
das Ding kam nicht gut." Der Zustand Jakoblis verschlechterte
sich aller Behandlung zum Trotz immer mehr. Schliesslich gab eine
Verwandte von Anne Bäbi den Rat, erneut den Doktor beizuziehen,
um den schlimmsten Ausgang der Krankheit zu verhindern. "Der
Doktor kam, und sobald er den Armen sah, erschrak er und sagte:
'Was Donners ist da gegangen? Habe ich nicht gesagt, man solle
nichts machen und warten, bis die Blattern am Abtrocknen seien?
Der kömmt um die Augen, und es ist die Frage, ob nicht schon
beide ausgelaufen. Wer hat da gekaaret, was ist gegangen?' 'He',
sagte Mädi, 'wenn es ihn so gebrannt hat, so habe ich ihn
gesalbet; etwas hat gehen müssen, es ist unser Lebtag nicht
erhört worden, dass man einen so daliegen lässt wie
ein Unvernünftiges und nichts an ihm macht.'"(284) Der
Doktor verhielt sich auch bei seinem zweiten Besuch abwartend
und versuchte nur, den Uebereifer von Mädi zu dämpfen.
Ob diese volksaufklärerischen Romane Gotthelfs die erhoffte
Wirkung erzielt haben, ist schwer zu beurteilen. Trotz (oder sogar
wegen) den überzeichneten Figuren sind sie auf jeden Fall
als aussagekräftige dritte Quellen zu betrachten, die auf
die damaligen Um- und Missstände sehr deutlich hinweisen.
Nach dem Abklingen der Epidemie der Jahre 1831/32 setzte eine Stagnationsphase des Impfwesens im Kanton Bern ein. Einerseits wurde die Kontrolle von allen Seiten sehr nachlässig geführt, von 1833 bis 1849 wurden nur in sieben Jahren die Tabellen vollständig eingereicht, und andererseits klaffte eine Grosse Lücke zwischen der Anzahl von Impfungen und der Anzahl von Neugeborenen (vgl. Grafik 6). Aus den Staatsverwaltungsberichten dieser Periode ist zudem zu vernehmen, dass der Widerstand gegen die Impfung nicht kleiner wurde, da "der Umstand, dass viele solcher Schlechtgeimpften erkrankten oder starben, nun bei den Unverständigen, die zwischen guter und schlechter Vaccination nicht unterscheiden, den Glauben an die Kraft des Schutzmittels geschwächt hat." (285) Trotz des Impfverbotes für Nichtmediziner wurde diese scheinbar immer noch ziemlich häufig betrieben.
Im Jahre 1838 hörte man aus den Amtsbezirken Aarberg und Pruntrut "Klagen über Indolenz von Aeltern gegen Vaccination ihrer Kinder." (286) Zugleich wird festgestellt, dass obwohl in einigen deutschen Staaten und in der Toscana die Impfung obligatorisch sei, im "Vaterlande Jenner's noch so viele Vorurtheile dagegen bei der ärmeren Volksclasse herrschen, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn auch bei uns, wo kein Zwang hierin geübt, wo bloss durch unentgeldliche Vaccination für alle Armen vom Staate gesorgt wird, noch manche Vorurtheile nicht ausgerottet sind." (287) 1842 wurde erstmals der Versuch gemacht, die obligatorische Impfung für jedes Schulkind sowie für jeden Rekruten einzuführen. Der Antrag der Sanitätskommission fand jedoch keine Gnade und wurde vom Departement des Innern, der Erziehung und des Militärs verworfen(288). 1843, nachdem seit dem Tiefpunkt von 1838 jährlich eine kontinuierliche Zunahme der Impfungen festgestellt werden konnte (vgl. Grafik 5) stellt der Staatsverwaltungsbericht fest, "wenn auch noch bei einem Theil des Publicums ein Vorurtheil gegen das Impfen vorhanden ist, so scheint doch im Allgemeinen das vertrauen in die Schutzkraft der Vaccine bedeutend zugenommen zu haben." (289)
Auf den 1. Januar 1850 war es im Kanton Bern soweit, dass die Impfung für Schulkinder obligatorisch erklärt wurde. Vermutlich ist einer der Gründe für die Einführung des Obligatoriums die sich in den 1840er Jahren ständig in einer gewissen Zahl zeigenden Pocken (vgl. Grafik 18). Dr. Lehmann, Regierungsrat und Depotarzt von Langnau, sah als Zweck des Gesetzes die allgemeine Durchführung der Schutzimpfung und damit die Ausmerzung der ziemlich häufig vorkommenden Pocken an(290). Die Impfung der Kinder war zugleich auch die Hauptbestimmung des Impfgesetzes(291), welches aus den folgenden 12 Paragraphen bestand:
§ 1: Alle Kinder müssen vor dem Schuleintritt geimpft sein.
§ 2: Die bereits im schulpflichtigen Alter stehenden Kinder ohne Impfschutz haben diesen innert Jahresfrist nachzuholen.
§ 3: Die Impfung muss durch ein ärztliches Zeugnis bescheinigt werden und die Lehrer haben dieses beim Schuleintritt zu kontrollieren und gegebenenfalls die nichtgeimpften Kinder beim Kreisimpfarzt anzuzeigen.
§ 4: Das Impfen der Schutzpocken ist nur den Aerzten erlaubt.
§ 5: Es sollen Kreisimpfärzte bestellt werden, die die Aufsicht über das Impfwesen haben.
§ 6: Die Kreisimpfärzte erhalten für eine gelungene Armenimpfung fünf Batzen.
§ 7: Für guten Impfstoff hat die Direktion des Innern zu sorgen, welche auch Belohnungen für die Beibringung von "ächtem Kuhpockenstoff" auszahlen kann.
§ 8: Aerzte, welche ausser dem betreffenden Kreisimpfarzt in dessen Kreis impfen, müssen ebenfalls ein Verzeichnis führen und dieses fristgerecht einreichen.
§ 9: Bei Ausbruch der Pocken müssen die behandelnden Aerzte zu Handen des Regierungsstatthalters und des Kreisimpfarztes Anzeige machen. Diese hat dann die nötigen Massnahmen zu treffen, um die weitere Verbreitung zu verhindern, nötigenfalls ist sie sogar berechtigt, die Unterstützung der Polizei zu verlangen.
§ 10: In Ortschaften oder Häusern mit Pockenfällen sollen sich alle Personen, die diese noch nicht gehabt haben oder nicht geimpft sind, sofort impfen lassen. Zudem wird Personen, welche vor mehr als 15 Jahren geimpft wurden, die Revaccination empfohlen. Auf diejenigen, welche sich dieser Paragraph bezieht, ist der Besuch von Erkrankten ausserhalb ihrer Familie verboten, überhaupt sollen Besuche bei Pockenkranken möglichst eingeschränkt werden.
§ 11: Zuwiderhandlungen gegen die Paragraphen 1, 2, 3, 4, und 7 sind mit einer Busse von ein bis 25 Franken pro Kind, solche gegen die Paragraphen 8, 9 und 10 soweit es die Eingabe der Verzeichnisse, die Anzeige von Pockenfällen oder das Ausgangs- und Besuchsverbot bei Kranken betrifft, mit einer Busse von vier bis 25 Franken zu bestrafen. Kann die Busse nicht bezahlt werden, wird sie in "verhältnismässige" Gefangenschaft umgewandelt. Bei Wiederholungsfällen soll sie um mindestens einen Drittel angehoben werden. Die Bussen sollen zuhanden der Armen verwendet werden.
§ 12: Dieses Gesetz soll am 1. Januar 1850 in Kraft treten
und durch Anschlag sowie Aufnahme in die Sammlung der Gesetze
und Dekrete bekannt gemacht werden.
In der Eintretensdebatte im Grossen Rat gab vor allem der Artikel 10 und die darin enthaltene Anordnung zur Impfung von Personen, welche diese noch nicht haben und die Empfehlung zur Revaccination viel zu Reden. Von Steiger meinte, "dieser Paragraph beschränkt die persönliche Freiheit gar zu sehr. [...] Solchen Beschränkungen der freien Dispositionsbefugnis über seinen eigenen Körper und Gesundheit wird sich Niemand gern unterziehen, und man kann daher nicht vorsichtig genug sein, um in dieser Beziehung Niemanden zu verletzen." (292) Ich habe den Eindruck, dass die Zeitgenossen schon nur auf Empfehlungen der Obrigkeit (und nicht nur auf Vorschriften) sehr empfindlich reagierten. Dies zeigte sich auch bei der Diskussion um den Paragraphen 7, der dem Kreisarzt zugestand, von auf Staatskosten geimpften Kindern Impfstoff zu entnehmen. Von Steiger sieht einen "Eingriff in die elterliche Dispositionsbefugnis über die Kinder. Es werden überdies keine Eltern so unvernünftig und egoistisch sein, dass sie eine Blatter, die an ihrem Kinde gelungen, nicht freiwillig hergeben würden, um Andern zu helfen. Da dieses schon eine Christenpflicht ist, so möchte ich Bedenken tragen, hier noch gesetzgeberischen Zwang anzuwenden." (293)
Den zuständigen Aerzten wurde mit dem Erlass des Impfgesetzes
eine "Instruktion für die Kreisimpfärzte"(294)
zugestellt, die verschiedene Anweisungen enthielt und ebenfalls
am 1. Januar 1850 in Kraft trat. Die Aerzte hatten unter anderem
die Pflicht, jedes Jahr wenigstens einmal in der wärmeren
Jahreszeit in jeder Kirchgemeinde des Kreises zu impfen, oder
zumindest dafür zu sorgen, dass durch andere Aerzte geimpft
werde. Aufgrund dieses Paragraphen 5 der "Instruktion für
die Kreisimpfärzte" scheint es, dass auch mit dem Erlass
des Impfgesetzes nicht eine grosse Welle von Impfaktionen und
-tagen im Kanton Bern zu erwarten war. Vielmehr wurde wahrscheinlich
von den zuständigen Stellen befürchtet, dass weiterhin
mit der zuvor herrschenden Nachlässigkeit das Impfgeschäft
betrieben werde. Auch Dr. Lehmann hat diesbezügliche Bedenken:
"Es kommt Alles darauf an, wie sich nun die Impfärzte
in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des Impfgesetzes benehmen.
Reisst wieder der alte Schlendrian ein, begnügt man sich
einfach wie früher, nur gerade zu impfen, wer sich an den
Impftagen zeigt, ohne sich um ein Weiteres zu bekümmern,
ja dann freilich wird das neue Impfgesetz seinen Zweck nicht erreichen,
denn der Buchstabe vermag nichts, wo der Geist nicht lebendig
macht, nicht wirkt und schafft." (295) Mit dem Inkrafttreten
des Impfgesetzes konnte 1850 zwar eine Zunahme von mehr als 3000
durchgeführten Impfungen gegenüber dem Vorjahr festgestellt
werden (vgl. Grafik 5), aber es ist wieder Dr. Lehmann(296), der
sich die Frage stellt, ob diese grosse Zahl von Impfungen wirklich
als Folge des Impfgesetzes anzusehen seien, oder ob eher die Furcht
vor den sich in diesen Jahren häufig zeigenden Pocken die
Leute für die Impfung empfänglicher machte. Die Zahlen
sprechen eher für diejenige Vermutung Lehmanns, welche die
Zunahme der Impfungen auf die Angst vor den Pocken zurückführt,
da nach dem Abklingen der kleine Epidemie von 1850 im Jahre 1852
die Anzahl erfolgter Impfungen wieder stark am Abnehmen war (vgl.
Grafik 5), von 12'290 im Jahr 1851 auf 9561 im folgenden Jahr.
Unter Umständen hatte aber auch der Rückgang der Geburten
seit dem Jahr 1848 eine gewissen Einfluss auf die kleinere Anzahl
von Impfungen (vgl. Grafik 6). Wie aus den Staatsverwaltungsberichten
hervorgeht, war die Durchführung des Impfgesetzes alles andere
als einfach. 1851 wird im Zusammenhang mit dem neuen Erlass folgendes
erwähnt: "Die Durchführung des Impfgesetzes ist
noch mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Um aber die hin und
wieder sich kundgebende Unzufriedenheit und die Abneigung gegen
das Impfen selbst, welche in mehrern Amtsbezirken hervortrat,
nicht auch durch die Anwendung von Zwangsmitteln zu vermehren,
beschränkte sich die Direktion darauf, die betreffenden Impfärzte
gelegentlich zur Geduld und Ausdauer in Ausübung ihrer Pflichten
aufzumuntern und ihnen zu empfehlen, vereint mit Lehrern und Gemeindsvorgesetzten
bei den säumigen Eltern nach und nach dahin zu wirken, dass
sie von ihrem Vorurtheil abstehen und die Nothwendigkeit des Impfens
einsehen lernen." (297) Das gute Zureden und der Verzicht
auf die staatlichen Zwangsmassnahmen scheint nicht gefruchtet
zu haben, denn 1852 mussten "wegen hartnäckiger Weigerung
ihre Kinder impfen zu lassen"(298) mehrere Väter bestraft
werden. Als 1855 beim Vergleich der Resultate der Impfungen während
der letzten Jahre ersichtlich wurde, dass "dass Impfgesetz
nicht überall gehörig beobachtet werde, so erliess die
Direktion ein Kreisschreiben an sämmtliche Impfärzte,
um dem Gesetz eine möglichst allseitige Nachachtung zu verschaffen."
(299) Auch 1855 hegt die Direktion des Innern die Vermutung, dass
das häufige Vorkommen von Pockenfällen einerseits mit
der nachlässigen Handhabung des Impfgesetzes einen Zusammenhang
habe und andererseits "das häufig vorkommende Transportiren
von Blatternkranken im Lande herum das Entstehen und oft die bedeutende
Ausbreitung der Blattern begünstigte, und da mehrere empörende
Fälle eines gegen die Gebote der Menschlichkeit und Christenpflicht
verstossenden Hin- und Hertransportirens von Blatternkranken vorkamen,
so sah die Direktion sich bewogen, die Angehörigen von Blatternkranken
und die sie behandelnden Aerzte auf das Ernstliche an die Befolgung
der Vorschriften des Impfgesetzes zu erinnern, unter Androhung
der vorgesehenen Strafe im Unterlassungsfalle." (300) Dass
dieses Herumschieben von Pockenkranken häufig geschah, wird
auch von Dr. Lehmann berichtet: "Von Wichtigkeit zur Verhütung
der Blattern wird ferner sein, dass die Polizei für eine
rechtzeitige und passende Unterbringung der obdachlosen Blatternkranken
sorge; damit nicht mehr begegne, dass solche von Pontio zu Pilato
im Lande herumgeführt werden, dabei zu Grunde gehen und das
Kontagium verbreiten." (301) Diese Problem war zum Teil auch
bedingt durch das Fehlen von Absonderungshäusern oder zumindest
von Absonderungsabteilungen für Pockenfälle und andere
ansteckende Krankheiten in den Spitälern. Wurden obdachlose
Pockenkranke aufgegriffen, wusste die zuständige Stelle oft
nicht, wohin mit diesen, da sie nicht in die öffentlichen
Spitäler gebracht werden durften. So kam es, dass sie möglichst
ohne Aufsehen von Ort zu Ort weitergereicht wurden, trotz des
bestehenden Verbotes. Aus diesem Grund entstanden des öftern
Komplikationen mit anderen Kantonen oder - innerhalb Berns - benachbarten
Gemeinden, die meist einen in scharfem Ton abgefassten Briefverkehr
nach sich zogen. Einzig bei ausgebrochenen Epidemien wurden solche
Absonderungshäuser eingerichtet(302). Diese wurden dann in
der Regel nach dem Ende der jeweiligen Epidemie - vor allem wegen
den anfallenden Kosten - rasch wieder aufgelöst.
1873 kam es zu einer bedeutenden Ausdehnung des Impfschutzes, da durch den Beschluss des Bundesrates vom 17. März die Revaccination für alle Rekruten und Offiziersaspiranten als obligatorisch erklärt wurde. Die Gegner der Impfung blieben in dieser Zeit jedoch keineswegs untätig. So stellt der Staatsverwaltungsbericht 1877 fest: "Die Agitation gegen die obligatorische Impfung ist im Zunehmen begriffen, und wird zum Theil durch staatliche Organe, u. A. durch den Professor der Hygiene, theoretisch unterstützt." (303) Gemeint war der in Bern tätige Adolf Vogt, der sich als einer der europäischen "opinion leader" gegen die Schutzimpfung profilierte. Dieser fiel auf durch seinen unermüdlichen Schaffensdrang und missionarischen Eifer sowie die vielen Publikationen gegen den Impfzwang und den dadurch provozierten Gegenstimmen(304). Vogt schreckte nicht davor zurück, in seinen Propagandaschriften gewisse statistische Taschenspielertricks und sogar Verfälschungen anzubringen. Bei ihm war der Spruch "Ich glaube nur den Statistiken, die ich selbst gefälscht habe" auf jeden Fall sehr zutreffend. Vogt war zudem Redaktionsmitglied des "Impfgegners" und späteren "Impfzwanggegners"(305), einer Zeitschrift, die sich über die nationalen Grenzen hinweg organisierte und gegen die obligatorische Impfung, die in vielen europäischen Ländern bestand, agitierte. Gegründet wurde im Kanton Bern auch ein "Verein zur Abschaffung des Impfzwanges", der 1880 eine von etwa 3000 Personen unterzeichnete Petition zur Abschaffung des Impfzwanges einreichte. Diese Petition fand jedoch vor dem Grossen Rat keine Gnade und wurde ohne Diskussion einstimmig abgewiesen. Das Impfgesetz konnte bedingt durch das Wirken der Impfgegner immer schwerer durchgesetzt werden: "Von einigen Kreisimpfärzten wird die in den letzten Jahren stattgefundene Abnahme der Impfungen gerügt, weil infolge der Agitation gegen den Impfzwang bei vielen Leuten der Glaube hervorgerufen worden sei, es sei die obligatorische Impfung wirklich aufgehoben, so dass auch schon schulpflichtige Kinder nicht geimpft sind und von Lehrern das in Kraft bestehende Impfgesetz nicht befolgt wird. [...] in Folge der neuerdings mit den Blattern gemachten Erfahrungen wird nun dem Gesetz wieder strengere Nachachtung verschafft werden können. Manche durch die Phrasen der Impfgegner eine Zeit lang Irregeleitete sind durch Schaden wieder klug geworden." (306) In der Tat waren die Impfungen seit 1875 rückläufig und erreichten 1880 den vorläufigen Tiefstand (vgl. Grafik 5). Der Niedergang konnte im folgenden Jahr nur wegen dem starken Auftreten der Pocken kurzfristig gebremst werden. Nach dem überstandenen Schrecken der Epidemie 1881 fand 1882 "infolge der Agitation gegen den Impfzwang, resp. gegen das von den Bundesbehörden erlassene Epidemiegesetz [...] wieder eine bedeutende Abnahme der Impfungen wie der Revaccinationen gegenüber dem Jahre 1881 statt, da ein guter Theil der Bevölkerung der Ansicht war, dass [...] das bernische Impfgesetz dahingefallen sei, zumal es an einer fortgesetzten Bearbeitung und Erregung des Volkes von Seiten der Impfgegner nicht gefehlt hatte." (307) In diesem Jahr wurde das eidgenössische Epidemiegesetz vom Volk verworfen. Die Folge war, dass viele glaubten, auch das Impfgesetz im Kanton habe keine Gültigkeit mehr. In Gegenden, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung das Epidemiegesetz verworfen hatte, verzichteten Impfärzte sogar auf die Durchführung von Impfungen, weil vermutlich die ablehnende Haltung gegen staatliche Zwangsmassnahmen in diesem Bereich so gross geworden war, dass es sich für die Impfärzte empfahl, ruhig zu bleiben. Die Situation veränderte sich im nächsten Jahr nicht wesentlich. Es hatte wiederum einige Kreisimpfärzte, die nicht impften und von etwa 20 Aerzten wurden keine Impfbücher eingereicht. 1884 besserte sich angesichts einer kleineren ausgebrochenen Pockenepidemie die Lage ein wenig. Scheinbar konnten viele Leute ihre Abneigung gegen die Impfung bei drohendem Pockenausbruch überwinden und zogen das kleinere Uebel der Kuhpocken demjenigen der echten Blattern vor. Nur so lassen sich die über 10'000 Impfungen dieses Jahres erklären. Dennoch gab es Ablehnung gegen die Impfung, wie dem Staatsverwaltungsbericht für das Jahr 1884 zu entnehmen ist: "Den 19. August wurden uns sodann die ersten Blatternfälle aus Lengnau gemeldet. Sie bildeten den Beginn einer grössern Epidemie, welche erst kürzlich gänzlich erloschen ist. Später konnten wir konstatiren, dass schon im Juli mehrere Blatternfälle beobachtet, aber verheimlicht worden waren. Diesem Verstoss gegen die Anzeigepflicht, wie auch der Renitenz eines Theils der Bewohner gegen die staatlichen Anordnungen ist es zuzuschreiben, dass die Seuche nicht eingedämmt werden konnte." Als die Epidemie sich 1885 weiter verbreitete, ohne aber bedrohliche Ausmasse anzunehmen, war ein weiteres Ansteigen an gemachten Impfungen festzustellen. Durch den "vorzüglichen animalen Impfstoff"(308), welcher benutzt wurde, wechselten beinahe alle Aerzte die Methode und unterliessen fortan die Impfung von Arm zu Arm. 1886 wurde dem Volk ein neues Impfgesetz vorgelegt, dass aber abgelehnt wurde ohne jedoch das alte ausser Kraft zu setzen. Trotzdem herrschte vielerorts die Meinung, das bestehende Impfgesetz sei nicht mehr in Kraft. Der Rückgang der Impfungen wird auch 1893 auf den Glauben, dass Impfgesetz sei nicht mehr gültig, zurückgeführt, da in diesem Jahr erneut ein Gesetzesentwurf über das Impfwesen im Grossen Rat diskutiert wurde(309). Warum diese Meinung mit einer solchen Hartnäckigkeit immer wieder erscheint, ist nicht klar, anzunehmen ist aber, dass einer der Gründe sicherlich das Wirken der impfgegnerischen Organisationen ist. Wegen der grössten Epidemie seit 1871/72 wurde 1894 jedoch der absolute Rekord an Impfungen verzeichnet, total 33'500.
Am 3. Februar 1895 kam es im Kanton Bern zur Abstimmung über die Aufhebung des Impfzwanges, nachdem die benötigten 12'000 Unterschriften zusammengebracht wurden. Bei einer Stimmbeteiligung von 44,8% wurde der Beschluss zur Abschaffung der obligatorischen Schutzpockenimpfung mit 27'468 zu 24'600 Stimmen angenommen. Interessant ist die Verteilung der Stimmen in den einzelnen Amtsbezirken(310). Mit grösster Deutlichkeit wurde der Beschluss in den jurassischen Aemtern verworfen. Diese waren immer wieder von Einschleppungen der Pocken von französischer Seite betroffen, wo bezüglich des Impfens keine Vorschriften existierten. Sie legten klar ihr Interesse an einem Weiterbestehen der obligatorischen Impfung an den Tag: In Courtelary verwarfen 74% der an der Abstimmung teilnehmenden Personen die Vorlage und lediglich 26,% wollten sie annehmen. In Delsberg war das Verhältnis 82% zu 18%, in Freibergen 86% zu 14%, in Moutier 74% zu 26% und in Pruntrut 88% zu 12%. Weitere deutlich ablehnende Resultate waren in folgenden Bezirken zu verzeichnen: Laufen mit 64% zu 36%, La Neuveville mit 85% zu 15%, Oberhasle mit 83% zu 17% und Saanen mit 73% zu 27%. Am eindeutigsten angenommen wurde der Beschluss in den folgenden Aemtern: Aarwangen mit 65% zu 35%, Bern mit 63% zu 37%, Biel mit 71% zu 29%, Konolfingen mit 71% zu 29%, Nidau mit 72% zu 28%, Schwarzenburg mit 74% zu 26%, Seftigen mit 70% zu 30%, Thun mit 82% zu 18% und Wangen mit 67% zu 33%.
Im Kantonstotal standen 52,75% annehmende gegen 47,24% ablehnende Stimmen. Das Resultat wurde wesentlich durch die drei bevölkerungsreichen Aemter Bern, Konolfingen und Thun bestimmt.
Nachdem die Gegner der Impfung ihr Ziel erreicht hatten, war beim Impfwesen eine nie zuvor so gravierende Stagnation zu verzeichnen, die Impfungen sanken unter den Stand der Anfangsjahre des geregelten Impfwesens. Das Thema für oder wider den Impfzwang verlor sich nun aus den überlieferten Aufzeichnungen.
Der stärkste Widerstand gegen die Schutzimpfung war vor allem bei deren Einführung bis zu den epidemischen Jahren 1826 bis 1830, kurz vor und nach dem Erlass des Impfgesetzes 1850 sowie in den 1870er und 1880er Jahren mit der Gründung von organisierten Gegnervereinen zu verzeichnen, wobei eine stets latente Abneigung gegen die Schutzimpfung sich das ganze Jahrhundert hindurch bemerkbar machte. Die verschiedenen Gründe, die letztendlich den Ausschlag für die Ablehnung bewirkten, müssen aus einem diffusen Gemisch unterschiedlichster Motivationen herausgefiltert werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielte die religiöse Frage sicher eine grössere Rolle als in den Diskussionen der 70er und 80er Jahre, eventuell bedingt durch das Wirken von Geistlichen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Impfschutz einsetzten. Ein Grund mag auch gewesen sein, dass keine wirklich stringente These existierte, die die Immunisierung gegen eine menschliche Krankheit durch ein von Kühen stammendes Material zu erklären vermochte. Gerade die vielen Vermutungen, Spekulationen, Annahmen, Thesen, Antithesen und Legenden, die sich um die Impfung entwickelten sind als guter Nährboden für eine ablehnende Haltung anzusehen. Die Angst vor körperlichen Folgen (Krankheiten oder sogar Tod) durch die Impfung war in pockenfreien Zeiten ein Motiv, welches die Menschen davon abhielt. Beim Auftreten der Pocken schien aber bei vielen die Furcht vor der Erkrankung doch grösser zu sein als die Furcht vor der Impfung und so liessen sie den Eingriff bei sich durchführen. In den 70er und 80er Jahren ist wohl das demagogische Schreien der verschiedenen Gegnerorganisationen als Hauptgrund für die Skepsis der Impfung gegenüber und deren spätere Abschaffung anzusehen. Die Motivationen eines so vehementen und fanatischen Gegners der Impfung wie Adolf Vogt werden jedoch nicht ersichtlich.
Ein nicht zu unterschätzender Faktor dürfte aber auch
die generelle Ablehnung von staatlichen Zwangsmassnahmen sein,
die direkte Auswirkungen auf die individuelle, persönliche
physische Integrität hatten.
Wieweit das Wirken von Männern wie Gotthelf, Fueter, Flügel, Lehmann und anderen, die für den Impfschutz eintraten und sich öffentlich exponierten, den steinigen Weg für die Impfung zu ebnen vermochte, ist hingegen kaum abzuschätzen.
In diesem Kapitel sollen die Resultate der während des 19.
Jahrhunderts nach der Regelung des Impfwesens durchgeführten
Impfungen zu analysiert werden. Die Zahlen bis 1830 wurden erhoben
aus Beständen des Staatsarchives Bern(311) und ab 1830 standen
die Staatsverwaltungsberichte zur Verfügung. Problematisch
an den Resultaten des gesamten 19. Jahrhunderts war deren Vollständigkeit.
Trotz den zuweilen nicht kompletten Daten scheinen die Zahlen
dennoch brauchbar für die in diesem Kapitel beabsichtigten
Interpretationen.
Grafik 5 zeigt das Total der durchgeführten Impfungen im Kanton Bern, d.h. darin enthalten sind die gelungenen und misslungenen Impfungen, wie auch die gelungenen und misslungenen Revaccinationen sowohl der Armen wie auch der Nichtarmen. Als Besonderheit erscheint in dieser Grafik ein Sternchen bei den Jahren, die von der benutzten Quelle als epidemisches Jahr bezüglich der Pocken bezeichnet wurde. Es ist klar, dass bei der Einschätzung von Epidemien von den verschiedenen Autoren unterschiedliche Massstäbe angesetzt wurden, deshalb können Jahre mit einem Sternchen versehen sein, die in Tat und Wahrheit weniger Fälle zu verzeichnen hatten als Jahre ohne Stern. In Grafik 18 und 19 wird jedoch sichtbar, dass häufig nur narrative Angaben über die Anzahl der an Pocken Erkrankten und Verstorbenen vorliegen. Aus diesem Grund wurde konsequent die Angabe in der Quelle verwendet. War ein Jahr als epidemisch bezeichnet worden, wurde ein Stern gesetzt(312). Mittels dieses Sternes sollte festgestellt werden, ob ein signifikanter Zusammenhang von als epidemisch bezeichneten Jahren und der Anzahl durchgeführter Impfungen ersichtlich wird.
Grafik 6 stellt das Total der Impfungen den Geburten(313) gegenüber.
In dieser Grafik wurden diejenigen Jahre mit einem Symbol gekennzeichnet(314),
bei denen erwähnt wurde, dass nicht alle Tabellen eingereicht
wurden. Grafik 7 stellt die Anzahl der Revaccinationen (also der
Wiederimpfungen) dar. Als Symbol erscheint der Stern für
die Bezeichnung als Epidemiejahr. Grafik 8 stellt das Total der
Impfungen demjenigen der Bevölkerung(315) gegenüber.
Grafik 5 impfto_anno.sas
Für die ersten Jahre nach der Regelung des Impfwesens liegen noch keine verlässliche Zahlen vor. Ausschlaggebend für die Durchführung der von staatlicher Seite geförderten Impfung war die Epidemie des Jahres 1804. 1805 wurden durch die eingegangenen Tabellen immerhin schon über 3000 Impfungen registriert(316). Für 1810 ist zu erfahren, dass "Die Resultate der diesjährigen Impfungen daher, in Hinsicht auf die Zahl nicht so schön als zu erwarten war denn, wenn auch die an vielen Orten herrschenden Poken die Impflinge bedeutend vermindert haben, so sind doch eben dadurch viele zur Vakzination bestimmt worden die sie sonst unterlassen hätten." (317) 1816 lässt sich aufgrund der starken Epidemie(318), die im Kanton Bern herrschte, erstmals die deutliche Zunahme der Impfungen (von 3150 nachgewiesenen 1815 auf 7397 1816) auf die Furcht vor den Pocken zurückführen. Obwohl die Epidemie sich auch in die nächsten Jahre hineinzog, wird die eingetretene Abnahme der Impfungen so erklärt: "Die verhältnissmässig geringe Zahl der Schutzpokenimpfungen des Jahres 1817 findet ihren Grund, eines Theils in der grossen Menge der im Jahr zuvor geimpften Subjekte, welche immer eine geringere Menge von Impfungen für das folgende Jahr nach sich zieht und andern Theiles in der herrschenden Theuerung und der dadurch an vielen Orten herrschenden Noth, die jenes merkwürdige Jahr so traurig auszeichneten." (319) Erwähnt wird, dass der Anteil der an Armen durchgeführten Impfungen unwahrscheinlich in die Höhe geschnellt ist, was auch auf die grosse Krise (Hungersnot) von 1817 zurückzuführen ist. Ein weiterer Grund, der in diesem Bericht nicht erwähnt wurde, könnte der Einbruch der Geburten in diesem Jahr (und damit dass Nachwachsen von prädestinierten Impflingen) sein. Dieser Vermutung ist entgegenzuhalten, dass Neugeborene kaum sofort geimpft wurden, sondern erst im 1. oder 2. Lebensjahr. Der Einbruch der Geburten 1817 würde folglich den Rückgang der Impfungen von 1819 zu einem gewissen Teil erklären können.
Anzunehmen ist, dass für jedes Jahr eine gewisse Menge an potentiellen Impflingen vorhanden war. Dieses Potential setzte sich zusammen aus einem gewissen Teil der Neugeborenen (oder zumindest von Kindern im Alter von 2 bis 6 Jahren) und einem Anteil an älteren Personen, die zur Impfung (später auch zur Wiederimpfung) bereit waren. Die zu erwartende Anzahl Impfungen eines Jahres war abhängig von verschiedenen Faktoren:
der Akzeptanz der Impfung
der Pockenfrequenz
dem Ueberwiegen einer der beiden Aengste: entweder vor den Pocken oder vor den Folgen der Impfung
von der Wirkung der Propaganda, entweder derjenigen des Staates oder derjenigen der Impfgegner (was einen Zusammenhang mit dem jeweiligen Organisationsgrad einer dieser beiden Seiten hatte)
Liessen sich die verschiedenen Faktoren korrekt gewichten, würde sich auf dieser Art die zu erwartende Menge von Impfungen ungefähr vorhersagen lassen.
Für das Jahr 1818 liegt keine Erklärung für die Zunahme der Impfungen um 57% gegenüber dem Vorjahr vor. 1819 wird für lange Zeit die geringste Zahl an Impfungen verzeichnet. Dies kann auf die folgenden Umstände zurückgeführt werden: Einerseits der weiter oben erwähnte Einbruch der Geburten von 1817 und andererseits scheinen keine oder höchstens vereinzelte Pockenfälle aufgetreten zu sein. Vor allem befand sich jedoch das Impfwesen in einem desolaten Zustand, wie Karl Flügel, der in diesem Jahr den Posten eines Oberimpfarztes antrat, beklagte(320). Den Aerger von Flügel erregte jedoch nicht nur die miserable Organisation, sondern auch die schlechte Qualität des verwendeten Impfstoffes, mit welchem viele Impfungen misslangen. D.h. die Impfung wurde aufgrund der allgemein nachlässigen Haltung der eingesetzten Aerzte nicht von staatlicher Seite gefördert und die sich sicher herumsprechende Kunde von vielen misslungenen Impfungen dürfte ebenfalls einige Patienten vom Impfen abgehalten haben. Der nach 1819 einsetzende Aufschwung des Impfwesens lässt sich zu einem gewissen Teil durch das engagierte Wirken von Flügel als Oberimpfarzt erklären. Der leichte Rückgang der Impfungen 1824 hat folgenden Grund: "[...] als vorzügliche Ursache der so geringen Anzahl dissjähriger Impflinge in Vergleichung früherer Jahrgänge ist die während dem ganzen Jahr 1824 im ganzen Kanton geherrschte Scharlach-Epidemie als das wichtigste Hinterniss anzusehen." (321) Wenn die zu impfende Person dem Arzt nicht vollständig gesund erschien, sollte dieser die Impfung verschieben. Die hohe Zahl 1825 ist darauf zurückzuführen, dass in Europa eine bedeutende Pockenepidemie ausgebrochen war und sich in einigen Teilen der Schweiz (jedoch noch nicht im Kanton Bern) schon zeigte, "wo sie zuweilen eine ziemliche Anzahl von Opfern hinraffte, erfüllte die Gemüter mit Furcht und Schrecken, und dadurch wurde manches seit Jahren gegen die Vaccine genährte Vorurtheil beseitigt, um der Gefahr der Ansteckung zu entgehen, so dass sich die Zahl der Impflinge und die Nachfrage nach derselben, bey jedesmahliger Nachricht von Annäherung der Poken bedeutend vermehrte." (322) Auch das Wirken der damals noch tätigen Hebammen scheint die Zahl der Impfungen in die Höhe getrieben zu haben, "als besonders Hebammen von Haus zu Haus gehen, um die Eltern zur Impfung ihrer Kinder aufzufordern, da dieselben oft ohngeachtet der Publikation von der Kanzel, nicht erscheinen." (323)
"Eine so bedeutende Zahl von Impflingen konnte nur die Furcht vor Ansteckung der Poken hervorbringen, indem dieselben sich ziemlich allgemein verbreiteten"(324) wird im Jahr 1826 berichtet. Die 13'899 erfolgten Impfungen wurden bis 1865 nicht mehr überboten und es war die nun auch auf den Kanton Bern übergegangene Pockenepidemie, die die Leute zur Impfung anhielt. Diese Epidemie war 1827 noch nicht beendet, dementsprechend blieb die Menge der Impfungen nach wie vor hoch. Zudem wurde noch die neue Impfkreisordnung eingeführt, die nach Flügel auch einen gewissen Anteil an den vielen Impfungen gehabt haben soll. In diesem Punkt täuschte er sich aber, denn sobald sich die Pocken im Jahr 1828 kaum mehr zeigten, reduzierte sich die Anzahl von Impfungen sofort. Bis November 1831 traten aber nach wie vor immer wieder Fälle von Pockenerkrankungen auf (vgl. Grafik 18), jedoch ohne eigentlichen epidemischen Charakter. Sobald die Pocken sich heftiger zu verbreiten begannen wie ab Ende 1831, stieg auch die Zahl der Impfungen rapide an, um 1833, nach dem Ende der Epidemie 1831/32, massiv abzunehmen. Der nächste Gipfel konnte 1836 verzeichnet werden, als einige Todesfälle durch die Pocken erfolgten. Ein weiterer Höchststand war in den Jahren 1843 bis 1847 zu verzeichnen, in denen 1845 und 1847 grössere (wenn auch nicht gravierende) Epidemien vorkamen. Die vielen Impfungen 1850 lassen sich ebenfalls wieder mit dem Vorkommen der Pocken und mit der Einführung der obligatorischen Impfung erklären. Bis 1865 die nächste grössere Epidemie auftrat, sind lediglich kleinere Schwankungen bei der Zahl der Impfungen festzustellen. Trotz der obligatorischen Impfung seit 1850 und trotzdem seit 1835 praktisch kein Jahr ohne Pockenfälle registriert wurde, konnte kein signifikanter Aufschwung der Impfungen festgestellt werden. Die stetigen Erkrankungen in diesen Jahren waren wohl zu wenig beeindruckend, um die Menschen scharenweise zur Impfung zu treiben. Erst mit der Epidemie von 1865 liessen sich über 25'000 Menschen impfen! Auch in den folgenden Jahren war immer wieder das gleiche Bild festzustellen: in epidemischen Jahren wie 1871/72, 1881, 1883/84, 1890-92 und 1894 (mit der absolut höchsten Zahl von total 33'452 Vaccinationen) konnte eine kurzfristig erhöhte Zahl von Impfungen festgestellt werden, diese sanken jedoch nach dem Nachlassen der Epidemien sehr schnell wieder ab. Einzig das Jahr 1875 scheint eine Ausnahme darzustellen. Obwohl der Kanton Bern von den Pocken verschont blieb, kam es zu 18'095 Impfungen.
Nachdem das Impfobligatorium 1895 weggefallen war, erfolgte ein massiver Einbruch und von nun an konnten weniger jährliche Impfungen als im Zeitraum von 1807 bis 1815 verzeichnet werden.
Die kontinuierliche leichte Zunahme der Impfungen in den Jahren
von ca. 1840 bis etwa 1876 (wenn auch zwischendurch kurze Rückgänge
verzeichnet wurden) lassen sich nur zum geringsten Teil mit dem
Wachstum der Bevölkerung erklären (vgl. Grafik 8), sondern
sind eher auf die ständig vorkommenden Pockenfälle und
die Angst vor einer Erkrankung zurückzuführen.
Grafik 6 impfgeb.sas
Bei Grafik 6 ist der Vorbehalt anzubringen, der weiter oben schon zur Sprache gebracht wurde. Die Zahl der Geburten und der Impfungen lassen sich eigentlich nicht im selben Jahr vergleichen, da die Neugeborenen in der Regel nicht im Geburtsjahr geimpft wurden. So sollte eigentlich die Kurve der Geburten gegenüber derjenigen der Impfungen um ca. zwei Jahre nach vorne verschoben sein. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass bei drohenden Pockenepidemien häufig auch Säuglinge im Alter von wenigen Monaten geimpft wurden. Trotz dieser Vorbehalte vermag Grafik 6 den beabsichtigten Sachverhalt dennoch zu verdeutlichen.
Aufgrund des Kurvenverlaufs lässt sich feststellen, dass
je kleiner die Differenz der Geburten und der Impfungen in einem
bestimmten Jahr ist oder die Anzahl Impfungen diejenige der Geburten
sogar zu übersteigen vermag, desto sicherer ist davon auszugehen,
dass in diesem Jahr die Pocken herrschten oder zumindest eine
Epidemie bevorstand. Mit anderen Worten: die Differenz der Geburten
und der Impfungen eines bestimmten Jahres ist als Pockenindikator
(sowohl für ausgebrochenen wie auch bevorstehende Epidemien)
anzusehen. Ein Grund, der diesen Effekt zusätzlich verstärkt
haben dürfte, liegt auch bei den oben angebrachten Einwänden:
Im Normalfall (also in mehr oder weniger pockenfreien Zeiten)
wurden Kinder mit einer gewissen Verzögerung geimpft, bei
drohender Pockengefahr jedoch öfters schon kurze Zeit nach
der Geburt, was den Effekt des Zusammenlaufens der Zahl der Impfungen
und Geburten zusätzlich verstärkt haben dürfte.
Die europaweite Pockenepidemie der Jahre 1825 bis 1830 (die aber
noch nicht auf den Kanton Bern übergegriffen hatte) vermochte
1826 eine grössere Anzahl von Menschen zur Impfung zu bewegen
als Geburten verzeichnet wurden. Bis 1828 hielt die Furcht vor
der Krankheit die Zahl der Impfungen im Vergleich zu den Geburten
hoch. Nachdem aber diese europäische Epidemie im Kanton Bern
nie voll zum Ausbruch gelangte, stieg 1829 die Differenz von Impfungen
und Geburten wieder massiv an. Die zweitgrösste Epidemie
des 19. Jahrhunderts von 1831/32 wird in der Grafik deutlich sichtbar,
die Anzahl Impfungen überstieg leicht diejenige der Geburten.
Schon im folgenden Jahr, nach dem Verschwinden der Pocken, ist
ein Einbruch bei den Impfungen festzustellen. Obwohl ab Mitte
der dreissiger Jahre kaum ein Jahr frei von Pockenerkrankungen
war, klaffte bis zur nächsten als Epidemie zu bezeichnenden
Häufung von Pockenfällen 1850/51 immer eine beträchtliche
Lücke zwischen der Anzahl Geburten und Impfungen. 1855 scheint
die Ausnahme darzustellen: "Bei Menschen zeigten sich die
Blattern [...] in mehreren Amtsbezirken nur vereinzelt und ohne
epidemischen Charakter." (325) Trotzdem überstieg die
Zahl der Geburten die Anzahl Impfungen ohne einen ersichtlichen
Grund (dass eine eventuell strengere Anwendung des Impfgesetzes
zu diesem Ergebnis führte, kann bezweifelt werden). 1864/65
wurde die nächste grössere Epidemie verzeichnet(326)
und die Zahl der Impfungen übertraf diejenige der Geburten
um mehr als 10'000. Eine weitere Epidemie trat 1870 bis 1872 auf,
und es wurden ebenfalls mehr Impfungen als Geburten registriert.
Bis 1875 schien es, dass bedingt durch die Nachwirkung des Schreckens
der grössten Pockenepidemie im 19. Jahrhundert die Zahl der
Impfungen im Vergleich zu der Zahl der Geburten beständig
hoch blieb. Es ist jedenfalls zu vermuten, dass bei Einreichung
aller Impftabellen(327) 1873 und 1874 ebenfalls ein Ueberhang
der Impfungen gegenüber den Geburten ersichtlich werden würde.
Nach 1875 schien der Schrecken der Epidemie in Vergessenheit zu
geraten und die Zahl der Impfungen begann bis 1881 abzunehmen.
In diesem Jahr traten sie mit einer Intensität auf, die seit
1871/72 nie mehr verzeichnet wurde (total 293 Kranke und 54 Tote).
Sofort überstieg kurzfristig die Zahl der Impfungen die der
Geburten. Die nächsten epidemischen Jahre dauerten von 1890
bis 1892 mit je 198, 184 und 206 Erkrankungen sowie je 20, 17
und 18 Todesfällen. In dieser pockenintensiven Zeit war,
anders als in früheren Jahren, nur eine leichte Zunahme der
Impfungen festzustellen. Einen möglichen Grund für diesen
Umstand konnte die intensivierte Tätigkeit der impfgegnerischen
Kreise sein, welche sich nach der Epidemie von 1871/72 zu äussern
begannen und ihre Arbeit in den achtziger Jahren noch weiter verstärkten
(vgl. Kap. 3.3.2.3.). Beim epidemischen Ausbruch der Pocken im
Jahre 1894 erkrankten 426 Personen und 20 erlagen dieser Krankheit.
Es wurden in diesem Jahr soviele Impfungen wie nie zuvor verzeichnet,
welche zudem die Anzahl der Geburten um mehr als 100% zu übertreffen
vermochten. Nach der Abschaffung des Impfzwanges 1895 setzte,
wie schon weiter oben erwähnt, der Niedergang des Impfgeschäftes
ein.
Aufgrund des Vergleiches der Schwankungen bei den durchgeführten Impfungen und den erfolgten Geburten lässt sich ein Rückschluss auf das Auftreten von Pockenepidemien im 19. Jahrhundert für den Kanton Bern ziehen.
Grafik 7 revac.sas
Wie aus Grafik 7 hervorgeht, lässt sich auch aus der Zahl der erfolgten Revaccinationen (der gelungenen wie auch der misslungenen) auf ein vermehrtes Auftreten der Pocken schliessen. Die ersten Wiederimpfungen im Kanton Bern wurden angesichts der Epidemie von 1831/32 im Jahr 1832 durchgeführt. Total wurden 401 Eingriffe vorgenommen. In den beiden folgenden Jahren, nach dem Ende der Epidemie, wurden keine Revaccinationen mehr verzeichnet. In den nie pockenfreien vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen, ein erster absoluter Höchststand mit total 9494 Revaccinationen (8135 gelungene und 1359 misslungene) fällt jedoch in die Epidemie des Jahres 1865. 1871 erfolgten 14'148 und 1872 6688 Revaccinationen. Vermutlich aufgrund des anhaltenden Eindruckes der Epidemie blieb auch die Zahl der Wiederimpfungen bis 1876 relativ hoch, um dann leicht abzusinken (für die Jahre 1873 und 1874 sind die Daten nicht komplett). In die Höhe schnellte diese Zahl wiederum beim Auftreten der Pocken in den Jahren 1881 (3254 Revaccinationen), 1885 (1806 Revaccinationen), 1890 bis 1892 (1390 bzw. 1623 bzw. 2288 Revaccinationen) und schliesslich 1894 (5584 Revaccinationen).
Anhand der Zahl der Revaccinationen vermag man sich ein deutliches Bild zu machen: je grösser die Anzahl durchgeführter Revaccinationen und je höher die Differenz der Wiederimpfungen gegenüber den vorangehenden Jahren, desto sicherer trifft die Annahme zu, dass es sich dabei um ein Jahr mit erhöhter Pockenfrequenz gehandelt haben muss.
Der erste Höhepunkt im Jahr 1832, die kontinuierliche Zunahme ab Mitte der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre (wenn auch auf sehr tiefem Niveau) und die Ausschläge 1865, 1871/72 (und den hohen Zahlen in den Jahren bis 1876 aufgrund der nachwirkenden Furcht), 1881, 1885, 1890 bis 1892 und 1894 sind deutliche Hinweise.
Grafik 8 impfpop.sas
Grafik 8 stellt den Versuch dar, festzustellen, ob eventuell auch ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung während des 19. Jahrhunderts und der Anzahl durchgeführter Impfungen besteht. Eine solche Beziehung lässt sich, wenn überhaupt, nur äusserst schwach aus der vorliegenden Grafik herauslesen. Ein leichtes Ansteigen der Impfungen geht zwar mit dem Wachstum der Bevölkerung einher, die Differenz der beiden Werte (Bevölkerung im Bereich von 250'000 und 530'000 Einwohnern, Impfungen von ca. 3000 bis 34'000) sind jedoch zu gross, als dass sich daraus ein Trend ablesen liesse. Die wesentlichen Faktoren, die die Zahl der Impfungen nachhaltiger bestimmten als die Entwicklung der Bevölkerung sind die folgenden: Die Präsenz und Absenz der Pockenkrankheit, die Furcht vor den Pocken(328), die Einführung des Obligatoriums, das Wirken der impfgegnerischen Kreise ab den siebziger Jahren und schliesslich die Abschaffung des Impfobligatoriums 1895.
1721 wurde die Inokulation nach England gebracht, fand jedoch bis in die 1750er Jahre keine grosse Verbreitung.
Bei der Inokulation (oder "Variolation" bzw. "Einpfropfung") handelte es sich um eine Schutzmethode, mit welcher man die Pocken zu einem selbstgewählten Zeitpunkt in milderer Form durchstehen sollte, um dadurch eine Immunität zu erwerben. Der zu inokulierenden Person wurde eine Hautläsion beigebracht, in welche dann Pockenmaterial (in Form von Eiter aus einer Pockenblatter oder durch an einem Faden angetrockneten Pockeneiter) eines anderen erkrankten Menschen zugeführt wurde. Mit menschlichem Material wurde die Krankheit so von Mensch zu Mensch übertragen.
Da die Inokulierten ebenfalls zur Verbreitung der Pocken beitragen konnten, kam es im Anschluss an solche Inokulationen gelegentlich zum Ausbruch von Pockenepidemien, mit der Folge, dass diese Methode in einigen Staaten verboten wurde.
Die Inokulation konnte die gleichen Folgen haben wie die eigentliche Pockenkrankheit: Erblindung oder sogar Tod.
Mitte der 1750er Jahre wurde das Verfahren der Inokulation geändert (die sogenannte "Suttonsche Methode", nach der Impfschnitte nicht mehr so tief angebracht werden sollten, nur noch Pockeneiter aus dem frühen Stadium zur Verwendung gelangen sollte und die künstliche Verlängerung des Wundeiterns zu unterlassen war). Die Konsequenz war, dass die Variolation einen viel milderen Verlauf hatte als die zuvor angewandte Methode.
Der Durchbruch der neuen "Suttonschen Methode" wurde einerseits durch deren hohen Kosten und andererseits durch ein generelles Misstrauen gegenüber Neuerungen verhindert.
Ein weiteres Hindernis für die Inokulation waren religiös motivierte Gründe, da durch den Schutz, welcher die Inokulation bot, ein Eingriff in die göttliche Vorsehung vermutet wurde.
In Bern wurde 1757 erstmals von Albrecht von Haller inokuliert.
1777 wurde in Bern die Inokulation, die jedermann gestattet war, in den Städten verboten und zudem auf die Frühlings- und Herbstmonate beschränkt.
Medizinisch behandelt wurden die im Berner Gebiet an den Pocken erkrankten Menschen nur selten, vielfach wurde lediglich purgiert oder laxiert.
Auch in Bern fehlte den Pocken eine soziale Stigmatisierung.
1796 wurde von Edward Jenner die Schutzimpfung ("Kuhpockenimpfung", "Vaccination" bzw. "Vakkzination") entdeckt. Dabei wurde Eiter von an Pocken leidenden Kühen (hier manifestiert sich die Krankheit an den Eutern) auf den Menschen übertragen. Die so verursachte Erkrankung verlief sehr mild und erzeugte dennoch eine Immunität gegen die menschlichen Pocken (die jedoch entgegen der ursprünglichen Annahme nicht lebenslang vorhielt, sondern meist zwischen 15 und 25 Jahren). Diese sogenannten "Schutzpocken" konnten aber im Gegensatz zu den inokulierten Pocken von den geimpften Personen nicht mehr weiterverbreitet werden.
Die Pockenepidemie von 1804 war der Auslöser zur Regelung des Impfwesens im Kanton Bern. Für die Armen wurden die Kosten der damals noch freiwilligen Impfung vom Staat übernommen.
Vom Staat wurden eigens zu diesem Zweck Kreisimpfärzte (und Hebammen) eingesetzt. Die Hebammen wurden ab 1827 aus diesem Geschäft verdrängt.
1850 wurde die Impfung im Kanton Bern als obligatorisch erklärt, dennoch ist nicht eine massive Zunahme der Impfungen von diesem Jahr an Feststellbar.
Im Kanton Bern (und im restlichen Europa) artikulierte sich recht grosser Widerstand gegen den Impfzwang. Die Gründe für die Ablehnung gingen teilweise auf religiöse Motivationen zurück, teilweise auf die Furcht vor der Ansteckung und der Uebertragung anderer Krankheiten durch die Impfung und teilweise auf allgemeine Vorurteile, die sich nicht rationell begründen lassen.
Jeremias Gotthelf wurde im Auftrag der Sanitätskommission von Emanuel Fueter angefragt, ob er nicht bereit sei, ein volksaufklärerisches Werk (v.a. gegen medizinische Pfuscher und Quacksalber) zu schreiben. Daraufhin entstand "Anne Bäbi Jowäger". In diesem Werk tritt Gotthelf klar für die Schutzimpfung ein.
1895 wird nach einer kantonalen Abstimmung mit knappem Ausgang die obligatorische Impfung wieder abgeschafft. Vor allem die jurassischen Aemter, die immer wieder unter Einschleppungen von Frankreich her zu leiden hatten, sprachen sich für die Beibehaltung des Obligatoriums aus. Nach der Aufhebung des "Impfzwanges" 1895 setzte eine massive Stagnation des Impfwesens ein.
Im Vergleich der durchgeführten Anzahl Impfungen (oder auch Revaccinationen) eines bestimmten Jahres mit denjenigen des Vorjahres lassen sich Rückschlüsse auf das Auftreten der Pocken im Kanton Bern machen.
Dass es sich bei den Pocken um eine alte Krankheit handeln muss, die schon seit langer Zeit menschliche Gemeinschaften heimsuchte, wird von keinem Autor bestritten. Worüber jedoch die Meinungen sehr stark auseinandergehen, ist die Präsenz virulenter Pocken in Europa. So sind eigentlich ausnahmslos alle älteren Autoren der Ansicht, dass die Pocken ununterbrochen seit etwa dem 6. Jahrhundert n. Chr. in Europa immer wieder schwerste Verluste forderten(329). Als Beispiel werden stets die Aufzeichnungen des Gregor von Tours aus dem Jahr 581 und die Notiz des Marius von Avenches von 570 als Beweis angeführt, die angeblich eine Seuche beschreiben, bei der es sich um die Pocken handeln müsse. Weiter ist diesen älteren Autoren gemeinsam, dass sie die in den Chroniken als "Pestilenz", "heiliges Feuer" oder "ignis St. Antonii" bezeichneten Seuchen grösstenteils unter die Pocken subsumieren. Wernher(330) geht sogar soweit und datiert das erste Eindringen der Pocken in Europa in die Jahre 165 bis 180 n. Chr. Für ihn ist die sogenannte "antoninische Pest" einwandfrei das erste Erscheinen der Pocken in Europa. Als weiteres unumstössliches Beweismittel für die These, dass die Pocken seit langem in Europa ihren Tribut forderten, wird immer wieder auch die Existenz eines Schutzheiligen angesehen. Dabei handelt es sich um St. Nicasius, den Bischof von Rheim, welcher 451 oder 452 von den Hunnen auf den Treppen seiner Kirche getötet worden sein soll. Angeblich genas er ein Jahr vor seinem Tod von den Pocken durch die Behandlung mit heiligem Oel. Nach seiner Kanonisation wurde er zum Schutzpatron der Pockenopfer(331). Dem hält jedoch Carmichael(332) entgegen, dass die Existenz eines Schutzheiligen für pustulöse Krankheiten nicht als Beweis für das Vorkommen von periodisch wiederkehrenden bestimmten virulenten Krankheitsformen angesehen werden kann. Vielmehr nimmt sie an, dass beim Auftreten einer neuen Krankheit in frühen Zeiten ein geeigneter Heiliger gesucht und gefunden wurde. Zusätzlich wurden noch Geschichten und Legenden erfunden, die davon berichteten, wie der Schutzheilige diese Krankheit erduldet habe um den Fall plausibler erscheinen zu lassen. Dabei handelte es sich jedoch in erster Linie um hagiographische Legenden, welche sich nicht verifizieren lassen und auch nicht der Wahrheit entsprechen müssen.
Es ist wiederum Carmichael, welche die These vertritt, dass vor dem 16. Jahrhundert in Europa die Pocken zwar vorkamen, die Krankheit aber nicht gefährlich war(333)! Weiter ist sie der Ansicht, dass die Pocken bei eventuellem Auftreten durch das frühere Mittelalter hindurch von anderen Infektionskrankheiten kaum zu unterscheiden waren, da viele solche tödlichen Krankheiten Opfer sowohl unter den Säuglingen wie auch den Kindern forderten, besonders in Gesellschaften, wo die Jungen ein grosses Segment der Bevölkerung umfassten. Die Autoren des 19. Jahrhunderts, welche sich dieser Chroniken dann bedienten und eine kontinuierliche Geschichte der Pocken suggerieren wollten, machten den Fehler, die vielen vorkommenden unpräzisen Beschreibungen grösstenteils den Pocken zuzuteilen. So wurden in den überlieferten Quellen erwähnte "Verbreitung von bläschenartigem Anthrax", Pusteln, Rötungen, Dysenterie, Ausflüsse aller Art, multiple Infektionen, gemischte Epidemien und sogar Mykosen (durch verunreinigtes Getreide) ebenso als Pockenepidemien identifiziert wie eigentliche einzelne tödliche Ausbrüche der Pocken.
Hopkins(334) und der Bericht der WHO(335) sind der Ansicht, dass der erste schwere Pockenausbruch auf Island ins Jahr 1241 fällt. Zur selben Zeit sollen die Pocken von infizierten Kreuzfahrern auch nach England gebracht worden sein. In Frankreich waren die Pocken nach Hopkins im 13. Jahrhundert zudem eine häufige Krankheit. Im 14. Jahrhundert sind die Berichte von Pockenepidemien nach Hopkins spärlicher. Diesen Umstand führt er auf das massive Auftreten des "Schwarzen Todes" zurück und die positiven Auswirkungen, die die Isolations- und Quarantänemassnahmen im Zusammenhang mit der Pest auch für die Pocken zeitigten. Warum aber finden sich diese Hinweise auf das Vorkommen der Pocken bei Carmichael und im Falle Islands bei Imhof nicht? Der Bericht der WHO stützt sich bei der Frage nach dem Vorkommen der Pocken im 13. und 14. Jahrhundert auf Hirsch und Hopkins. Hopkins wiederum benutzte vor allem ältere Unterlagen(336), deren Autoren noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftet waren und eine kontinuierliche, konsistente Geschichte der Pocken in Europa zu schreiben versuchten. Diesen älteren Schreibern begegnete jedoch Carmichael (und auch Imhof) mit grösster Skepsis. In der Tat ist festzustellen, dass gerade bei den Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Tendenz vorherrschte, unreflektiert von stets den gleichen älteren Werken immer wieder dieselben Aussagen zu übernehmen. So werden trotz der Fülle des vorhandenen Materials aus dem 19. Jahrhundert zur Pockenfrage nie eigentlich neue Fakten vermittelt, sondern es werden immer wieder die gleichen Aussagen und Beispiele gebracht.
Carmichael ist der Meinung, dass der signifikante Punkt nicht die Frage nach der Existenz der Pocken an und für sich sei, sondern ihre Existenz in milder Form(337). Bei der Ueberprüfung von zeitgenössischen Darstellungen Westeuropas von 1300 bis 1500 aus bevölkerungsreichen Regionen (Italien, Spanien, die Pariser Region und die Gebiete rund um London) fand sie eine einzige tödliche Pockenepidemie. Dieser Ausbruch fand 1444 in Paris statt, damals eine Stadt mit etwa 35'000 Einwohnern. Dabei erkrankten nach Angaben des Chronisten 6000 Personen und "viele starben"(338). Im Vergleich zu den Aufzeichnungen des frühen Mittelalters sind diejenigen des 14. und 15. Jahrhunderts viel vollständiger und informativer. Aufgrund dieser Dokumente kann angenommen werden, dass es zu wiederkehrenden Pockenepidemien kam. Zusätzlich weist viel darauf hin, dass bei den stattgefundenen Ausbrüchen ein relativ avirulenter Stamm der Pocken dominiert haben muss. So wird im 14. Jahrhundert in Italien von sieben Pockenausbrüchen berichtet(339). Carmichael macht jedoch die Einschränkung, dass viele den Pocken zugeschriebene Epidemien in der Periode vor 1500 Fehldiagnosen seien, da die europäische Wissenschaft sich mit den Pocken erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinanderzusetzen begann.
Im 15. Jahrhundert wird die erste Pockenepidemie Italiens 1465 in Bologna erwähnt. Berichtet wird, dass in den Herbstmonaten viele Fälle von "Fieber, Pocken und Pneumonie"(340) auftraten. Zieht man weiter in Betracht, dass von 1464 bis 1468 in Norditalien die Pest wütete, kann es bei der Diagnose zu vielen Verwechslungen und Konfusionen gekommen sein.
In England fand Gottfried(341) eine einzige tödliche Epidemie im Jahre 1462, die sich nicht eindeutig der Pest oder einer anderen Infektionskrankheit zuschreiben liess, für die Pocken fand er hingegen kein einziges sicheres Beispiel im 15. Jahrhundert. Im Gegensatz zum Vorkommen bei Einzelfällen sollten jedoch gerade in Epidemien die klassischen Pocken von der Pest unterscheidbar sein. Offenbar ist der Nachweis für reine Pockenepidemien (abgesondert von der Pest) in der Zeit vor 1600 äusserst selten zu erbringen!
Dies belegen auch die urbanen Totenregister, in denen gelegentlich die Todesursache registriert worden war und mit deren Hilfe ebenfalls Rückschlüsse gezogen werden können. In den Florentiner Totenbüchern wurde aber die Diagnose und Todesursache lediglich während Pestjahren konsequent aufgezeichnet. Bezeugt sind drei Heimsuchungen von Pocken in den Jahren 1424/25, 1430 und 1439. Inklusive dieser drei epidemischen Jahre wurden in den 35 Jahren von 1424 bis 1458 lediglich 84 Pockentote registriert! Da eine Pockendiagnose Familien davor bewahrte, nach der strengen Pestmethode behandelt zu werden, ist nicht zu vermuten, dass eine grosse Dunkelziffer von nicht bekanntgemachten Fällen besteht. Carmichael ist der Ansicht, dass zwar die Pocken-Morbidität(342) recht hoch gewesen sein muss, die Krankheit jedoch keine grosse Todesfallrate aufzuweisen hatte(343).
Eine ähnliche Situation findet sich auch in den Registern der Kirchgemeinde All Hallows London Wall im 16. Jahrhundert. Hier wurde nicht nur die Todesursache sondern ebenfalls das Todesalter aufgezeichnet. In der 25 Jahre dauernden Periode zwischen 1574 und 1598 wurden lediglich zwölf Personen registriert, die an den Pocken gestorben waren, davon waren zehn unter sieben Jahren alt(344).
Scheinbar handelte es sich bei den Pocken vom 15. Jahrhundert an bis nach der Mitte des 16. Jahrhunderts in vielen Teilen Europas um eine endemische Kinderkrankheit mit unbedeutender Mortalität. Diese Meinung vertreten sowohl Carmichael, Razzell, Hopkins wie auch der Bericht der WHO.
Seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts begann die Zahl der registrierten Pockenepidemien jedoch rapide zuzunehmen. Zudem setzten sich nun auch die Gelehrten mit dieser Krankheit vermehrt auseinander (so etwa Fracastaro und Ingrassia, vgl. Kap. 2.2.2.). Wurden in Italien im 14. Jahrhundert 7, im 15. Jahrhundert 4 und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1500 bis 1550) 7 Pockenausbrüche verzeichnet, stieg diese Zahl in der zweiten Hälfte auf 38(345). Der früheste Hinweis auf eine reine virulente variola-Epidemie ohne Durchmischung mit pest- oder typhusähnlichen Formen ist derjenige von Neapel im Jahr 1544(346). 1570/71 wurde in Venedig die erste grosse Epidemie mit mehr als 10'000 Opfern registriert, welche von Rom her eingedrungen war. In Mantua starben im Jahr 1586 viele Menschen an den Pocken. In den ersten fünf Jahren der 1570er Dekade wird in Norditalien von acht schweren Pockenepidemien berichtet mit zusätzlichen Beschreibungen von bösartigen Pusteln und hoher Kindersterblichkeit(347). Immer mehr begannen sich nun die Beschreibungen denjenigen anzugleichen, die in den nächsten zwei Jahrhunderten von den Ausbrüchen des variola major-Virus gemacht werden sollten. Berichte von Pockenepidemien, kombiniert mit Masern, liegen für Alkmaar 1551 und für Delft 1562/63 vor. Betroffen waren dabei vorwiegend Kinder. 1555 töteten die Pocken in Valencia viele Personen. Ausbrüche in Spanien kamen auch in den Jahren 1564 und sowohl in den 1580er wie auch in den 1590er Jahren vor. 1600 befiel eine ausserordentlich schwere Epidemie Galicien. Und eine Kombination von Masern und Pocken verursachte die ungewöhnlich hohe Mortalität von 1580 in Paris. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatten sich die Pocken in Europa sehr stark verbreitet. Sie kamen nachweislich in Italien, Frankreich, Spanien, England, Holland, Dänemark, Schweden und Island vor und erreichten ein alarmierendes Ausmass. Ab etwa Mitte des 16. Jahrhunderts beginnen sich auch die Angaben der neuen und älteren Autoren anzugleichen. Bohn erwähnt beispielsweise folgende Epidemien im 16. Jahrhundert: 1536 in Paris, 1551 in Ancona, 1567 in Mantua, 1568 in Paris, 1551 in Alkmaar, 1562/63 in Delft, 1570, 1577 und 1588 in Brixen, 1577 und 1586 in Frankreich ("eine solche Niederlage ist seit Menschengedenken nicht gesehen; es starben fast Alle, die ergriffen wurden."), 1583 in Italien, 1578 in Schweden, 1555/56, 1574 und 1590/91 in Island und 1592 in Dänemark(348).
Im 17. Jahrhundert sollen die Pocken sowohl Pest, Lepra und Syphilis als tödlichster Krankheit den Rang abgelaufen haben und sie vermochten scheinbar auch Dysenterie und Typhus zu übertreffen. 1614 soll sich eine schwere Pandemie über ganz Europa und den Nahen Osten erstreckt haben, welche auch nach Nordamerika verschleppt wurde(349). In den nächsten Jahren kam es zur Registrierung von Epidemien in ganz Europa. So 1626 in Bern(350), 1629 in Württemberg, 1640 in Delft, 1655, 1658, 1670 und 1672 in Island. Dänemark wurde wegen seines regen Handelsverkehrs das ganze Jahrhundert hindurch in Intervallen von vier bis sieben Jahren von den Pocken heimgesucht. 1666 sollen Epidemien in Frankreich und Amsterdam ausgebrochen sein. Und in den 80er und 90er Jahren herrschten in beinahe allen Ländern Europas, vornehmlich in Deutschland, der Schweiz und Italien, ausgedehnte Pockenepidemien(351).
Das 18. Jahrhundert wird bezüglich der Pocken als vermutlich dramatischste Zeit bezeichnet(352). Einerseits tauchen mit der Inokulation zwar erste Schutzmassnahmen in Europa auf (deren Wirkung äusserst zweifelhaft war, dennoch eine Möglichkeit darstellten, aus der dumpfen, passiven Apathie des vorhergehenden Jahrhunderts auszubrechen) aber andererseits forderten die Pocken wie nie zuvor eine hohe Zahl an Opfern.
Aufs Schwerste heimgesucht wurde des ganze Jahrhundert hindurch immer wieder London. Von 1700 bis 1706 sollen die Pocken stark in Deutschland aufgetreten sein(353). In Island wurden schwere Epidemien 1707 (18'000 Tote bei 50'000 Einwohnern) und 1786 registriert. 1709 und 1711 herrschten die Pocken in Kärnten, in den Jahren 1711, 1713 und 1715 bis 1717 in Süddeutschland sowie 1717 auch in Italien. 1719 soll sich in Europa eine Pandemie ausgebreitet haben. In Paris kam es 1711, 1716, 1719, 1723, 1731 und 1735 zu massiven Ausbrüchen und 1739 breiteten sich die Pocken über ganz Frankreich aus. 1720 und 1736 gab es viele Fälle in Italien. Schwer betroffen war Dänemark in den Jahren 1716 und 1733, Holland 1724 und 1728. In Berlin wurden zwischen 1766 und 1795 sechs schwere Pockenepidemien registriert. In Wien kam es 1790 zu einem Ausbruch, der etwa 1500 Todesfälle zur Folge hatte. In Schweden kam es 1779 und 1784 zu Epidemien mit ca. 27'000 Toten allein in diesen zwei Jahren. In Bern hat nach Angaben von Haller 1735 ein blutige Variola geherrscht(354). Hier sind nur die schwerwiegendsten Epidemien genannt, diese Aufzählung(355) hätte beinahe noch beliebig verlängert werden können. Nicht zu vergessen sind weiter diejenigen Todesfälle, welche durch die endemisch vorhandenen Pocken in nichtepidemischen Jahren verursacht worden sind und vermutlich ebenfalls eine nicht unbedeutende Zahl von Opfern gefordert haben.
Leider liegen für Bern bezüglich der Pocken keine Angaben
vor. Vorstellbar ist jedoch, dass im 17. Jahrhundert bedingt durch
Massnahmen wie die vorgenommene hermetische Abriegelung des bernischen
Territoriums gegen die anflutende Pestwelle von 1666(356), (im
Gegensatz zu anderen Schweizergebieten, die wegen lässig
gehandhabter Quarantänemassnahmen von der Pest heimgesucht
wurden) dies insofern positive Wirkungen zeitigte, als dadurch
keine oder zumindest nur vereinzelte Pockenfälle eingeschleppt
werden konnten. Es scheint, dass in Bern die Quarantäne-
und Isolierungsmassnahmen nicht nur zu dieser Zeit strenger befolgt
wurden als in anderen Teilen der Schweiz, sondern auch im 18.
und 19. Jahrhundert.
Eine wichtige Innovation dieser Zeit war die Einführung von statistischen Aufzeichnungen. So wurden in London ab 1629 die sogenannten "Bills of Mortality" geführt und auch in Genf kam es zur Registrierung der Toten nach Ursache und Alter ab 1580. Schon ab ca. 1750 wurden Statistiken ebenfalls in den nördlichen Staaten Finnland und Schweden geführt. Mit Hilfe dieser Daten wird im Folgenden versucht, die Entwicklung der Pockenkrankheit in Europa vom Beginn des 17. Jahrhunderts an nachzuvollziehen. Ein Problem ist jedoch, dass lediglich die Todesfälle verzeichnet wurden und Angaben über die Zahl der Erkrankungen höchstens in einzelnen epidemischen Jahren approximativ vorliegen. Dadurch kann bspw. die Letalität nicht berechnet werden, welche Rückschlüsse auf die Virulenz der Pockenviren ermöglichen würde.
Gins(357) ist bezüglich der Londoner "Bills of Mortality" der Meinung, dass deren Zuverlässigkeit bezweifelt werden darf, da die Eintragungen in die Sterberegister meistens von Laien und auf blosse Vermutung hin gemacht wurden. Trotz der möglichen Fehler lassen sich aber dennoch gewisse aufschlussreiche Folgerungen aus diesen Zahlen ziehen.
Grafik 9 londpct.sas
Im Jahr 1632 wird die Evidenz einer ersten strengen Pockenepidemie erstmals ersichtlich, als der Anteil der Pockentoten an der Gesamtzahl der Toten von einem endemischen Niveau von weniger als 1% auf 5,8% springt. 1634 traten erneut virulente Pocken in London auf, und der Anteil der Pockentoten kletterte auf 12,2%. Die Daten des 17. Jahrhunderts weisen von 1637 bis 1646 und 1665/66 Lücken auf, als die grosse Londoner Pest alle Zahlen verzerrte und von 1686 bis 1700 unterbricht der Verlust der Daten die Reihe.
Im Jahr 1630 werden etwa 230'000 Bewohner in London angenommen. Aufgrund dieser Zahl ist es möglich, dass sich die Pocken endemisch in London halten konnten, ohne, um ihr Fortbestehen zu sichern, auf Einschleppungen angewiesen zu sein(358). Vor der Einführung der "London Bills of Mortality" 1629 gibt es jedoch kaum Aufzeichnungen, welche auf eine signifikante pockeninduzierte Mortalität hinweisen, mit Ausnahme einer Epidemie im Jahre 1612. Die ersten Jahre der Registrierung weisen ebenfalls (abgesehen von den Ausschlägen 1632 und 1634) eine geringe endemische Mortalität (d.h. Mortalität in Jahren ohne eigentliche epidemische Ausbreitung) auf. Auffallend ist, dass diese jährliche endemische Mortalität ab 1645 konstant zu steigen beginnt auf 2 bis 3%, in den Jahren nach der Pest sogar auf 4 bis 5%. Gleichzeitig überlagern Epidemien in immer kürzeren Abständen diese hohe endemische Mortalität. So traten 1649, 1652, 1655, 1657, 1659, 1661, 1663, 1669, 1673, 1676, 1677, 1678, 1680, 1681, 1682, 1683 und 1684 Seuchen auf, welche mehr als 6% der jährlichen Todesfälle verursachten(359). In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass gegen Ende des Jahrhunderts in London jährlich zwischen 1000 und 1200 Tote den endemischen Pocken erlagen und bei Epidemien von mehr als 8% Anteil waren es sogar zwischen 2500 und 3000 Todesfällen. Die Pocken verursachten eine ungeheure Zahl von Toten, und diese sollte im nächsten Jahrhundert sogar noch übertroffen werden. Carmichael vertritt die Ansicht, dass die in England gemachten Erfahrungen mit dem Ansteigen der virulenten Pockenfälle sich ebenfalls auf dem Festland wiederholten und die Pockenepidemien zu Beginn des 18. Jahrhunderts überall in Europa bekannt und gefürchtet waren(360).
Die Zahlen der "Bills of Mortality" sprechen eindeutig
dagegen, dass das Pockenvirus zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf
eine zuvor von den Pocken unberührte Bevölkerung traf.
Wäre dies der Fall gewesen, müssten die ersten Epidemien
viel verheerender gewesen sein als die späteren (vgl. das
Beispiel Südamerikas nach der Entdeckung durch Kolumbus(361)
oder dasjenige Islands, wo in grossen zeitlichen Abständen
die Bevölkerung nach der Einschleppung von Pocken bis zu
einem Drittel reduziert wurde(362)). Da dies aber nicht der Fall
gewesen war, muss angenommen werden, dass der Anteil an pockenimmunen
Personen zu Beginn des Jahrhunderts nicht wesentlich anders war
als an dessen Ende. Die erste Epidemie von 1632, welche, wäre
sie auf eine zuvor noch nicht von den Pocken heimgesuchte Bevölkerung
getroffen, die meisten Opfer gefordert haben müsste, verursachte
lediglich einen Anteil von 5,8%, die zweite schon 12,2% der jährlich
anfallenden Toten. So scheint die These zutreffend, dass die Pocken
vor deren Nachweisbarkeit und Erscheinen in den "Bills of
Mortality" in London als milde Variante (die aber trotzdem
zu einer Immunität verhilft!) schon verbreitet waren. Im
Verlauf des 17. Jahrhunderts begann sich aber ein virulenter Stamm
von letalen Pockenviren in Europa auszubreiten, welcher in einer
ersten Phase mit dem harmlosen Typus koexistierte und spätestens
ab Mitte des 17. Jahrhunderts den zuvor dominanten nichtletalen,
avirulenten Pockenvirustyp verdrängen konnte(363).
Um 1658 wird eine Bevölkerung von 384'000 Personen in London angenommen, mit einem durchschnittlichen Wachstum von 4'500 Menschen pro Jahr. Mit einer jährlichen Sterberate von ungefähr 15'000 Personen müssen folglich lediglich 20'000 Menschen neu hinzukommen, um dieses Wachstum zu ermöglichen. Nach Wrigley und Schofield(364) kann davon ausgegangen werden, dass 10'000 davon Neugeborene sind, die selbstverständlich nicht immun gegen die Pocken waren. Bei den anderen 10'000 Personen handelte es sich grösstenteils um Immigranten aus den isolierteren ländlichen Gebieten, bei denen sicherlich die Hälfte ebenfalls über keine Immunität verfügte. So bezeichnet Hopkins(365) für jüngere Erwachsene aus ruralen Gebieten, welche zuvor einer Infektion entgangen waren, die Pocken in den grossen Städten als grösstes Risiko. Dabei muss man sich die verschiedenen Erscheinungsformen der Infektion in den beiden Umwelten vorstellen: Die Pocken wurden nur in Grossstädten wie London, wo sie nie erlöschten (und die Infektionskette wegen genügendem Nachschub an nichtimmunen Menschen nicht abbrach), zu einer endemischen Kinderkrankheit(366), währenddem sie sich in den dünner besiedelten ländlichen Gebieten auf epidemische Ausbrüche beschränkten und daher auch häufig junge Erwachsene und Heranwachsende befallen konnten, deren Tod vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen natürlich stärker ins Gewicht fiel als derjenige von Kleinkindern. Aufgrund des endemischen Charakters der Pocken in London wurden praktisch alle von diesen jährlich neu hinzukommenden 15'000 nichtimmunen Menschen früher oder später von dieser Krankheit ergriffen und folglich können so auch durchschnittlich 15'000 Pockenfälle jedes Jahr erwartet werden. In den fünf Jahren vor und nach 1658 waren durchschnittlich 1000 durch Pocken verursachte Todesfälle registriert worden(367), was für diese Zehnjahresperiode eine Pocken-Letalität von 6,66% ergibt(368). Im Vergleich dazu die Letalität der zwei verschiedenen Virustypen der Pocken: diejenige des variola minor-Virus beträgt um 1% gegenüber den 15 bis 25% des variola major-Virus (vgl. Kap. 2.4.3.). Aufgrund der Letalität von 6,66% ist anzunehmen, dass zu diesem Zeitpunkt zwei verschiedene Virusstämme nebeneinander existierten. Werden die Todesfälle dem virulenten Stamm zugerechnet, kann angenommen werden, dass nach dem Verdrängen des nichtletalen Typs die Pockenletalität um den Faktor zwei (oder mehr) anwachsen sollte.
Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts weisen die wenigen verfügbaren epidemiologischen Daten für die Pocken sowohl eine geringe Letalität wie auch eine unbedeutende Mortalität aus. Wird die weiter oben begonnene Argumentationskette in die Zeit vor 1600 zurückgeführt, ergibt sich folgendes Bild: Die gelegentlichen und streng isolierten Epidemien mit hoher Mortalität (bspw. in Paris 1444) weisen daraufhin, dass variola major schon in dieser Periode existierte. Unklarheit herrscht nur über das rasche Verschwinden und die Herkunft dieser isolierten Ausbrüche mit einer grossen Sterblichkeit vor dem 17. Jahrhundert. Handelte es sich dabei um importierte Viren aus aussereuropäischen Quellen oder waren es lokale Mutationen mit einer grösseren Virulenz? Es wäre denkbar, dass vorkommende Pockenvirusstämme gelegentlich zu aggressiven Varianten mutierten, ohne sich jedoch vorerst auf Dauer zu etablieren(369). Die andere Möglichkeit ist, dass die aggressive Form des Pockenvirus durch den ständig zunehmenden Handelsverkehr mit anderen Kontinenten und dem Verschiffen von Sklaven durch europäische Schiffe mehr und mehr den Zugang von Afrika oder Asien her auf Europa fand. Doch warum traten dann nicht schon im 16. Jahrhundert zumindest in den Hafenstädten Portugals und Spaniens tödliche Epidemien auf? Die Antwort liefert eine Theorie, welche jedoch stark bezweifelt wird. So soll das von den Spaniern nach Amerika gebrachte avirulente Pockenvirus aufgrund genetischer Unterschiede der indigenen amerikanischen Bevölkerung gegenüber den Europäern Mutationen erfahren haben und sich zu der tödlichen Form entwickelt haben. Von Südamerika wurde dann die veränderte aggressive Form des Pockenvirus wieder zurück nach Europa gebracht. Retrospektiv ist die klare Beweisführung für die Richtigkeit oder Unkorrektheit einer dieser Annahmen nicht mehr möglich(370).
Die Pockentodeszahlen des 18. Jahrhunderts deuten jedoch daraufhin,
dass etwas geschehen sein musste: entweder kam es zu einer Veränderung
des Pockenvirus oder eine nichtletale Form wurde von einem Virus
mit tödlicherer Wirkung verdrängt.
Von 1700 bis 1800 schliesst sich in London beinahe eine Epidemie an der anderen an und die endemische Mortalität in nichtepidemischen Jahren erreicht schwindelerregende Höhen von 4 bis 5% aller Todesfälle. Ein Anteil von mehr als 10% der Pockentoten am Gesamttotal der Todesfälle bei epidemischen Ausbrüchen ist keine Ausnahme mehr. Erwähnt wird etwa die Epidemie des Jahres 1719, welche 3229 Pockentote (oder 11,2% aller Todesfälle) zur Folge hatte(371). Diese Epidemie ist zwar keineswegs eine der grösseren (vgl. Grafik 9), speziell hervorgehoben wurde sie aber im Zusammenhang mit den ersten durchgeführten Inokulationen in England. In der grossen Epidemie, welche im Dezember 1751 begann und bis zu Beginn des Jahres 1753 dauerte, erlagen 1752 17,2% aller Todesfälle oder 3538 Menschen an den Pocken. Nach den 1750er Jahren kam es zu einem neuerlichen Ansteigen der Pockentodesfälle(372), trotz der nun grösseren Verbreitung der Inokulation (durch die Suttonsche Methode aus den frühen sechziger Jahren). Interessanterweise fand jedoch die Inokulation (später auch die Impfung) in Grossstädten wie London keinen grossen Anklang. Diese Neuerung verbreitete sich vor allem in ländlicher und kleinstädtischer Umgebung unter Umgehung der grossstädtischen Zentren. Dies hatte mehrere Gründe: Einerseits waren von den Pocken in den grossen Städten bedingt durch deren endemisches Auftreten vor allem die im ökonomischen Prozess nicht wertvollen Kinder betroffen, wodurch auch ein Impuls fehlte, Schritte zur Prävention dieser Krankheit zu unternehmen. Dagegen erkrankten in den ländlichen Gebieten nebst den Kindern auch viele sich schon im Arbeitsstadium befindliche Menschen, deren Ableben für die Gemeinschaft gravierendere Folgen zeitigte als der Tod eines Kleinkindes(373). Weiter war die Durchführung der Inokulation und später auch der Impfung nicht nur - aber speziell - für die ärmste Klasse eine kostspielige Angelegenheit(374), die trotz den anfallenden hohen Kosten kein sicheres Resultat in Aussicht zu stellen vermochte. Teilweise wurde die Inokulation wegen der Gefahr der Verbreitung von Seuchen in dichtbevölkerten Gebieten von den Behörden sogar untersagt (z.B. in Frankreich bis 1774). In London kam es hingegen nicht zum Erlass eines solchen Verbotes. Nach der Entdeckung der Jennerschen Impfung wurde in England sowohl die Inokulation wie auch die Vaccination betrieben. 1796, im Jahr der Entdeckung der Kuhpockenimpfung, starben in London bei einer der vermutlich schwersten Epidemien über 3500 Personen, was 18,4% aller Todesfälle ausmachte. Nicht nur London war betroffen, sondern die Pocken suchten von Irland und England aus in diesem Jahr in einem pandemischen Zug ganz Europa heim.
Die Schutzimpfung vermochte sich im Gegensatz zu der Inokulation recht schnell durchzusetzen und 1801 waren schon gegen 100'000 Impfungen in England durchgeführt worden(375). Sichtbar wird dies auch in Grafik 9, da schwere Epidemien, die mehr als 10% aller Todesfälle verursachten, im 19. Jahrhundert nur noch 1871 vorkommen. Zu Beginn des Jahrhunderts sind die Zahlen für London bis etwa 1812 zwar noch recht hoch, beginnen dann aber ständig zu sinken. Die Hauptursache liegt vermutlich darin, dass 1807 die "London Vaccine Institution" gegründet wurde, was der Impfung wohl zusätzlichen Auftrieb verlieh. Das Wirken dieses Institutes kann mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zum Niedergang der Pocken beigetragen haben, obwohl die Impfung nicht obligatorisch war. 1837 bis 1840 kam es zu neuen schweren Pockenausbrüchen. Hopkins erwähnt für 1837 2100 Tote in London. In der Folge wurde der erste "Vaccination Act" 1840 in Kraft gesetzt. Durch diesen Erlass wurde die Inokulation definitiv untersagt und die Impfung empfohlen, zudem wurden die Kosten für Armenimpfungen vom Staat übernommen. Nach vermehrtem Auftreten der Pocken zu Beginn der 1850er Jahre wurde im "Vaccination Act" von 1853 die Impfung nun als obligatorisch erklärt. Abgesehen von der europäischen Pandemie 1870 bis 1874 ist die Anzahl der Pockenfälle des 19. Jahrhunderts, speziell seit dem ersten "Vaccination Act" von 1840, nicht mehr vergleichbar mit denjenigen des vorhergehenden Jahrhunderts.
Allem Anschein nach ist dieser Umstand grösstenteils auf
die Durchführung der Jennerschen Kuhpockenimpfung oder möglicherweise
zum Teil auf eine erneute Veränderung oder Verdrängung
eines aggressiven Virustyps durch eine harmlosere Form zurückzuführen.
Das Klima als Erklärungsfaktor für das vermehrte oder
reduzierte Auftreten der Pocken kann hingegen ausgeschlossen werden.
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine klimatische Konstellation aus, die sich in dieser Ausprägung in den letzten 500 Jahren nicht findet: die Sommer waren langfristig extrem trocken, wobei die Temperaturen nicht über, sondern tendenziell unter den Durchschnittswerten der Periode 1901 bis 1960 lagen(376). Perrenoud(377) zieht bei seiner Untersuchung der Pockenhäufigkeit in Genf Klimaschwankungen als mögliche Komponenten in Betracht. Der Quotient der Pockenmortalität reduzierte sich nach seinen Beobachtungen in kalten Jahren (1689 bis 1698, 1730 bis 1749), um sich in Phasen mit warmen Sommern (1602 bis 1605, 1634 bis 1639, 1676 bis 1686, 1713 bis 1728, 1756 bis 1762 und 1774 bis 1784) zu verdoppeln. Aber auch während kalten Zeiten wie 1590 bis 1601, 1620 bis 1633 und 1640 bis 1650 wurden viele Pockentodesfälle registriert. Perrenoud vermutet, dass bedingt durch die im 19. Jahrhundert dominanten Klimaverhältnisse möglicherweise auch die Virulenz der wichtigsten Epidemien zurückging. Diese Beobachtung widerspricht im Falle der Pocken aber genau der auf Experimenten beruhenden Erfahrung, dass Pockenviren unter kühlen, trockenen Bedingungen signifikant länger überleben als unter warmen, feuchten(378)!
Ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Pocken und kaltem,
trockenem Klima (wie in der Kaltperiode 1812 bis 1860(379)) muss
aufgrund der experimentellen Versuche verneint werden. Zumindest
lässt sich der Rückgang der Pocken in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts nicht mit klimatischen Verhältnissen
erklären, da ja diese geradezu ideal für die Lebensfähigkeit
der Pockenviren waren! Für das 18. Jahrhundert lassen sich
die experimentellen Ergebnisse, Pockenhäufigkeit und bestehende
Klimakonstellationen hingegen sehr gut zur Uebereinstimmung bringen:
Die Pocken waren in praktisch allen europäischen Ländern
äusserst präsent und in der Periode 1731 bis 1811 kontrastierten
kalte, trockene Winter und Frühlingsmonate häufig mit
warm-feuchten Sommern, welche in kühle Herbste übergingen(380).
Aufgrund dieser Beobachtungen kann der Schluss gezogen werden,
dass klimatische Bedingungen in Europa eher einen marginalen Effekt
auf das Auftreten der Pocken hatten. In Betracht zu ziehen wären
allenfalls indirekte Auswirkungen der klimatischen Verhältnisse,
welche die Anfälligkeit der Menschen für die Pockenkrankheit
beeinflussen könnten, sei es durch direkte biologische Mechanismen
oder indirekt durch Mangelernährung, die auf witterungsbedingte
Missernten zurückzuführen ist.
Wieso aber 1871 ein so starkes Auftreten der Pocken registriert wurde, ist nicht klar. In Betracht kommen verschiedene hypothetische Möglichkeiten:
1.) Obwohl, wie auch das Beispiel von Bern zeigte, nie alle Personen trotz bestehender Vorschriften oder Empfehlungen geimpft werden konnten, nahm die Zahl der Pockentoten seit Beginn des Jahrhunderts dennoch stetig ab. Als mögliche Ursache für dieses Phänomen könnte die Verdrängung eines virulenten durch einen avirulenten Virusstamm zu Beginn des Jahrhunderts angesehen werden. 1871 und auch in den folgenden Jahren mit erhöhtem Pockenvorkommen und grösserer Pockenmortalität hätte eine letale Form sich wiederum für kurze Zeit in Europa zusammen mit der harmloseren etablieren können.
2.) Die Wirkung der Impfung entsprach wirklich den Vorstellungen, jedoch kam es 1871 zu einer Summierung unglücklicher Umstände wie etwa Nachlassen des Schutzes bei geimpften Personen, eine hohe Zahl von Personen, welche sich der Impfung entzogen hatten und das Auftreten einer virulenteren Form, was schliesslich zur Epidemie führte.
3.) Gerade in Bezug auf den Kanton Bern könnte Hypothese 2 ebenfalls zutreffend sein: So wurde in Bern jedes Jahr nur ein Bruchteil der Bevölkerung geimpft. Diejenigen Personen, die vor etwa 1804 geboren wurden, verfügten vermutlich aber zum grössten Teil über eine Immunität gegen die Pocken, da sie im Kindesalter diese Krankheit überstanden hatten. Ein kleiner Teil der Neugeborenen nach 1804 wurde in Bern geimpft, ein anderer Teil wurde durch das Durchlaufen der Krankheit immunisiert. In der Periode von 1805 bis ca. 1830 traten die Pocken aus unbekannten Gründen nur selten und dabei noch in relativ milder Form auf. Ab 1825 konnte ein leichter Anstieg der jährlich gemachten Impfungen festgestellt werden. Deren Wirksamkeit liess aber spätestens nach 30 Jahren nach. Revaccinationen wurden in Bern bis 1865 kaum verzeichnet. So fanden die Pocken in den Jahren 1870 bis 1874 eine empfängliche Bevölkerung vor und forderten auch dementsprechend Opfer. Wenn die Impfung wirklich die erhoffte Immunität auslöste, war sie wegen ungenügender Verbreitung trotzdem beinahe wirkungslos. Lange gab es aber im 19. Jahrhundert noch Leute (diejenigen mit Jahrgang 1804 und älter) mit einer natürlichen Immunität, weil sie in ihrer Kindheit an den Pocken litten. Weiter verlor das Pockenvirus aus unbekannten Gründen an Virulenz oder wurde durch eine andere Virenform oder Krankheit (Scharlach, Masern?) verdrängt und vermochte die Menschen nicht mehr zu infizieren. Dafür spricht die Abnahme der Pockenfälle insgesamt, also nicht nur der tödlichen. In der Pandemie 1870 bis 1874 wurde jedoch eine solche für den Menschen gefährlichere Form noch einmal akut und verursachte die vielen Pockenfälle.
4.) Die Impfung zeitigte insofern eine Wirkung, die sich sofort
in den Statistiken niederschlug, weil durch dieses Mittel in erster
Linie die von den Pocken am stärksten betroffenen Altersklasse
der 0 bis 5-jährigen der Krankheit maximal für eine
Periode von 25 bis 30 Jahren entzogen wurde. Wenn auch nicht alle
Kinder geimpft wurden, war die Zahl möglicherweise genügend
gross, um die Infektionskette abbrechen zu lassen(381). Das ganze
Jahrhundert hindurch existierten die Pockenviren so nur noch in
Gebieten, in denen kaum prophylaktische Massnahmen durchgeführt
wurden wie etwa in Frankreich, wo die Impfung erst 1902 obligatorisch
erklärt wurde. Von Zeit zu Zeit und unter bestimmten Verhältnissen
war es aber möglich, dass aus diesen "Pockenviren-Reservaten"
Fälle verschleppt wurden. So wäre die Epidemie der Jahre
1825 bis ca. 1832 erklärbar: Nach dem Nachlassen der Schutzwirkung
waren ohne ihr Wissen sehr viele pockenfähige Menschen in
ganz Europa vorhanden und das Virus konnte sich verbreiten, ohne
dass gravierende Lücken in der Infektionskette bestanden
hätten. Die Pandemie der Jahre 1870 bis 1874 ist jedoch als
direkte Folge und Konsequenz der Kriegshandlungen aus dem deutsch-französischen
Krieg anzusehen. Gerade in diesem Fall spricht einiges für
die Wirkung der Schutzimpfung: Starben in der preussischen Armee,
die eine obligatorische Impfung verlangte, lediglich 297 Menschen
an den Pocken, waren dies bei den französischen Truppen ca.
23'400 Soldaten. Bei der Zivilbevölkerung herrschte sowohl
in Frankreich wie auch im deutschen Reich kein Impfzwang. So wurden
auf deutscher Seite etwa 150'000 (0,36% der Bevölkerung)
und auf französischer Seite etwa 90'000 (0,25% der Bevölkerung)
Menschen dahingerafft(382). Ins Deutsche Reich wurden die Pocken
jedoch hauptsächlich durch die insgesamt 373'000 französischen
Kriegsgefangenen eingeschleppt, von denen ungefähr 14'500
an den Pocken erkrankten und ca. 2000 daran starben. Die Deutschen
holten sich in diesem Krieg mit den Gefangenen also eigenhändig
eine biologische Zeitbombe in ihr Land, vor allem angesichts des
ungenügenden Schutzes der eigenen Bevölkerung.
Aus verschiedensten Gründen, zu nennen wären demographische (und klimatische) Faktoren, mögliche Verdrängung oder Veränderung des letalen, infektiösen Virus-Typs sowie die Aktivitäten von Impfpersonen, schwankte die Zahl der anfälligen Personen und die optimalen Bedingungen für die Uebertragung ständig, so dass grössere Epidemien alle paar Jahre auf dem Hintergrund der Endemie auftraten. Aus der heutigen Zeit ist es sehr schwierig, die wirklichen Gründe für das Abflachen der Pockenkurven zu finden. Wie oft vermag eine monokausale Erklärung die Ansprüche nicht zu befriedigen. Ohne eine Gewichtung der einzelnen Elemente vornehmen zu können, hatten sicherlich die Faktoren Schutzimpfung und damit Entzug der exponiertesten Altersklasse vor den Pocken sowie Veränderung oder Verdrängung des bis anhin dominanten Virustyps (dies vor allem angesichts der ungenügenden Durchimpfung der Bevölkerung) einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Rückgang der Pockenfrequenz.
Für Genf sind hervorragende Aufzeichnungen über die
Pocken (Anzahl der Pockentoten und deren Alter) von 1581 bis 1812
erhalten. Die Zahlen bei Senn-Schnyder wurden aus einer Veröffentlichung
Léon Gautiers(383) entnommen und Perrenoud(384) stützt
sich auf Dokumente des Staatsarchives von Genf. Die von diesen
zwei Autoren verwendeten Daten sind identisch, insgesamt werden
von 1581 bis 1812 8616 Pockentote gezählt. Hopkins(385),
der sich nach seinen eigenen Angaben ebenfalls auf Perrenoud stützt,
erwähnt jedoch im Zeitraum von 1580 bis 1760 (!) für
Genf aus unerklärlichen Gründen 25'349 Pockentote!
Grafik 10 genfpct.cht
In den 231 Jahren von 1581 bis 1812 erlagen in Genf nach Angabe Gautiers und Perrenouds insgesamt 8616 Menschen den Pocken, total verstarben in diesem Zeitraum 152'926 Personen.
Während der gesamten Periode hatten die Pockentoten einen Anteil von 5,6% am Total der Todesfälle. Von 1581 bis 1599 waren 6,6% der Toten an den Pocken verstorben, von 1600 bis 1649 7,52%, von 1650 bis 1699 5,12%, von 1700 bis 1749 5,2%, von 1750 bis 1799 5,04% und von 1800 bis 1812 4,16% (von 1801 bis 1812 1,79%, ohne die Epidemie von 1800!). Die höchsten Anteile der Pockentoten liegen also zwischen 1581 und 1649, danach sinkt der Wert auf knapp über 5%, um erwartungsgemäss im 19. Jahrhundert (die Epidemie des Jahres 1800 nicht eingerechnet) auf unter 2% zu fallen. Mit erschreckender Regelmässigkeit traten ungefähr alle vier bis sechs Jahre grössere Epidemien auf. Lediglich folgende Perioden blieben ununterbrochen mehr als sieben Jahre von Pockentodesfällen einigermassen unbehelligt: 8 Jahre von 1612 bis 1619 (es fehlen jedoch die Zahlen des Jahres 1615, welches ein Pestjahr war und diejenigen von 1616, in welchem eine europaweite Pockenpandemie herrschte), 8 Jahre von 1695 bis 1702 und 12 Jahre von 1789 bis 1799, wobei von 1791 bis 1793 und 1797 einige Fälle auftraten. Diese 12 Jahre dauernde Phase mit einer reduzierten Pockenmortalität endete 1800 aber mit einer sehr schweren Epidemie, die 259 Opfer forderte.
Die Epidemie des Jahres 1634 war diejenige, die mit 335 Toten (46,2% aller Todesfälle dieses Jahres) am meisten Opfer in der ganzen Registrierungszeit forderte. Weitere schwere Ausbrüche fanden in den folgenden Jahren statt: 1686 erlagen 329 Menschen (29,6%), 1620 269 (37,2%), 1800 259 (26,7%) und 1606 (37,6%) sowie 1648 (33,9%) je 254 den Pocken. Ueberwog im 17. Jahrhundert der Vierjahreszyklus, traten im 18. Jahrhundert die Pocken vermehrt in fünfjährigem Abstand auf.
Analog zu den Londoner Daten ist auffällig, dass auch in
Genf die frühen Ausbrüche nicht die schwersten waren,
was den Rückschluss erlaubt, dass die Pocken in Genf in Bezug
auf diese Krankheit ebenfalls nicht eine jungfräuliche Bevölkerung
vorfanden. Dies vermag einmal mehr die Hypothese zu bestätigen,
dass zuvor eine milde Form der Pocken in Europa dominierte. Im
Unterschied zu London scheint es aber, dass sich die Pocken in
Genf nicht endemisch einzunisten vermochten, da es in den 231
Jahren immerhin 129 Jahre ohne Pockentodesfälle oder mit
weniger als zehn Toten gab(386). Als entscheidende Ursache für
diesen Umstand ist die zu geringe Bevölkerungsgrösse
von Genf anzusehen(387), welche nicht ausreichte, die Pocken endemisch
zu unterhalten. Bedingt durch den regen Verkehr, den Genf als
Zentrum und Zufluchtsort für politische und religiöse(388)
Flüchtlinge jedoch hatte, konnten immer wieder Fälle
eingeschleppt werden.
Betroffen von den Pocken waren in erster Linie Kinder von 1 bis 4 Jahren. Aus dieser Altersgruppe rekrutierten sich über die ganze Messperiode hinweg 57,4% aller Pockentodesfälle. Die 0 bis 1-jährigen stellten einen Anteil von 23,9%, die 5 bis 9-jährigen einen von 15,3%. Die Altersgruppe von 10 bis 14 Jahre machte lediglich noch 1,6% und diejenige der 15 bis 19-jährigen 0,75% der Pockentoten aus. Nur ein Prozent der an Pocken gestorbenen war älter als 19 Jahre(389). Werden diese Altersklassen noch weiter aufgeschlüsselt, ergibt sich das Resultat, dass im Alter von einem und zwei Jahren das Risiko am grössten war, von den Pocken befallen zu werden und daran zu sterben. 18,4% aller Pockentoten entstammten der Gruppe der Einjährigen, die Gefahr für die Zweijährigen war etwa gleich gross, entfielen doch 18,1% der Pockentodesfälle auf dieses Lebensalter. Mit zunehmendem Alter sank das Risiko, an den Pocken zu sterben, vermutlich aus dem einfachen Grund, dass durch eine unterdessen erfolgte Infektion (also einer Erkrankung) inzwischen eine Immunität aufgebaut wurde. Kinder im Alter von drei Jahren hatten noch einen Anteil von 12,4% an den Pockentoten, Vierjährige einen von 8,5%. Neugeborene (jünger als ein Monat) waren von den Pocken noch nicht gefährdet, ihr Anteil am Total aller Pockentoten beträgt 0,5%. In dieser Phase des Lebens waren die Kinder noch nicht den normalen Umwelteinflüssen ausgesetzt, damit war auch die Möglichkeit klein, eine Infektion zu erlangen. Mit zunehmenden Alter und dem allmählichen Aufgeben der Isolation und den dadurch entstehenden Kontakten zur Umwelt stieg die Gefahr einer Erkrankung. So waren die Kinder von 1 bis 3 Monaten mit einem Anteil von 2,2% unter den Pockentoten vertreten, diejenigen von 4 bis 6 Monaten mit 5,9%, von 7 bis 9 Monaten mit 7% und von 10 bis 12 Monaten lag der Anteil bei 8,3%.
Am Beispiel Genfs zeigt sich einmal mehr deutlich, dass die Pocken den Charakter einer Kinderkrankheit hatten. Der Modus für Genf ist einleuchtend: Alle vier bis fünf Jahre, wenn genügend nichtimmune Kinder nachgewachsen waren, konnte sich eine Epidemie bilden, die durch eine Einschleppung ausgelöst wurde, während in der Zwischenzeit in Ermangelung an nichtimmunen Menschen die Infektionskette weitgehend zusammenbrach. Im Gegensatz zu London, welches sowohl im 17. wie auch im 18. Jahrhundert eine hohe endemische Mortalität aufzuweisen hatte und bei epidemischen Ausbrüchen der Anteil der Pockentoten am Total aller Todesfälle bis auf maximal 18,4% stieg, war in Genf in dieser Periode kein nennenswerter endemischer Anteil an Pockentoten zu verzeichnen. Dafür waren die Ausschläge bei Epidemien ungleich höher und es wurden Werte bis zu 46,2% (Anteil von Pockentoten am Gesamttotal der Toten) erreicht. Die Schwere des Ausbruchs von 1634 könnte darauf zurückzuführen sein, dass seit 1620 kein massives Auftreten verzeichnet wurde und 1634 demnach überdurchschnittlich viele potentielle Opfer vorhanden waren, die dann effektiv auch von den Pocken befallen wurden(390). Ab etwa 1750 kann eine Reduktion bezüglich der Quantität von schweren Ausbrüchen mit einem Anteil von mehr als 20% aller Todesfälle festgestellt werden, dafür kam es nun beinahe alle Jahre zu einer erhöhten Zahl von Pockentodesfällen(391). Es zeigte sich eine Tendenz zur endemischen Verbreitung der Pocken. Von 1750 bis 1799 kommen nur 16 Jahre mit weniger als zehn Pockentoten vor. In diesem Zeitraum starben 22,3% aller Pockentoten der gesamten Registrierungszeit (mit der Epidemie von 1800 steigt dieser Zahl auf 25,3%). Verglichen mit den anderen Fünfzigjahresperioden ist dieser Wert als durchschnittlich anzusehen(392). Einiges deutet aber daraufhin, dass sich die Pocken ab 1750, eventuell dank einem verstärkten Bevölkerungswachstum, einer grösseren Einwohnerdichte und vor allem den häufigen Inokulationen, endemisch in Genf halten konnten und nicht mehr vorwiegend auf das Einschleppen von Viren angewiesen waren, um das Fortbestehen zu gewährleisten. Perrenoud nimmt an, das speziell mit der Einführung der Suttonschen Methode das Risiko gestiegen sei, sich mit dieser Krankheit zu infizieren(393). 1800/01 kam es zum letzten massierten Auftreten der Pocken in Genf. Nach der Einführung der Jennerschen Schutzimpfung reduzierte sich auch hier die Zahl der Pockentoten sehr schnell. 1808/09 kam es nach dem schweren Ausbruch von 1800/01 erneut zu einer Epidemie, die aber im Gegensatz zu den zuvor periodisch auftretenden Seuchen in den zwei Jahren zusammen nur 103 Opfer forderte. Vermutlich als Folge der Impfung konnte dieser Krankheit ein grosser Teil der tödlichen Bedrohung genommen werden.
Für Finnland liegen Angaben zu Pockentodesfällen von
1751 bis 1865 vor und für Schweden wurde die Pockenmortalität
in den Jahren 1749 bis 1855 erhoben. Bei den Zahlen dieser skandinavischer
Länder tritt ein Problem in Erscheinung, welches bei den
Daten von London und Genf zwar nicht erwähnt wurde, aber
dennoch vorhanden gewesen sein könnte. In Finnland wurden
in den Sterblichkeitstabellen im Zeitraum von 1751 bis 1773 Pocken
und Masern zu einer einzigen Gruppe zusammengefasst und erst ab
1774 erschienen die beiden Todesursachen getrennt. Auch in Schweden
waren Masern und Pocken in den jährlichen Tabellen erst ab
1774 in separaten Spalten registriert worden. Lindskog(394) verweist
in diesem Zusammenhang ausdrücklich daraufhin, dass nicht
praktisch alle Todesfälle in der Rubrik "Pocken und
Masern" einfach als Pockentodesfälle interpretiert werden
könnten. Entgegen der weitverbreiteten Ansicht, dass Todesfälle
bei den in heutiger Zeit normalerweise gutartig verlaufenden Masern
nur selten vorkommen, können unter schlechten hygienischen
Verhältnissen ernsthafte Komplikationen auftreten. Eine Letalität
von bis zu 20% scheint dann keine Ausnahme darzustellen. Dies
ist wiederum ein Wert, der bei Pockenerkrankungen erreicht wird,
die durch das variola major-Virus verursacht werden! Da sowohl
bei Masern wie Pocken das Ansteckungsrisiko sehr hoch ist, kann
vermutet werden, dass vor dem 19. Jahrhundert jedes überlebende
zehnjährige Kind die eine wie die andere Krankheit durchgemacht
und dabei eine lebenslängliche Immunität erworben hatte.
Wie gross aber der Anteil der Masern an der den Pocken zugeschriebenen
Mortalität war, oder in welchem Ausmass die Masern die in
diesem Fall in Anführungszeichen zu setzende "Pockensterblichkeit"
in die Höhe zu treiben vermochte, ist kaum abzuschätzen.
Turpeinen(395) fand am Beispiel Finnlands heraus, dass die Masernsterblichkeit
vom 18. zum 19. Jahrhundert eine erhebliche Zunahme erfahren hatte.
Als mögliche Erklärungen für diese Erscheinung
sieht er folgende Punkte an: Eine Verschlechterung des allgemeinen
Lebensstandards unter anderem aufgrund der raschen Zunahme einer
besitzlosen Bevölkerung, so dass der Anstieg der Masernsterblichkeit
eigentlich ein Spiegelbild der zunehmenden Proletarisierung des
ländlichen Finnland im letzten Zeitabschnitt vor der Industrialisierung
darstellt. Möglicherweise bestand aber überhaupt kein
Zusammenhang zwischen Masernsterblichkeit und wirtschaftlichen
Faktoren und die Veränderung läge in einem Wandel der
Krankheit selbst begründet(396). Die dritte mögliche
Erklärung für eine Zunahme der Masernsterblichkeit ist
für Turpeinen diejenige, dass ein Rückgang der Pocken
den übrigen, sie rivalisierenden Krankheiten ein weiteres
Wirkungsfeld überlassen hat.
Grafik 11schweden.cht
An Grafik 11 ist auffallend, wie nach der separaten Aufzeichnung der Pocken und Masern ab 1774 die Pockenmortalität - speziell die endemische in nichtepidemischen Jahren - rapide abnimmt! Das Erscheinungsbild der Kurve ist bis etwa 1800 jedoch durchaus vergleichbar mit denjenigen von London und Finnland, sowie teilweise von Genf. In Finnland fehlt hingegen ein so augenfälliger Rückgang der "Pockenfälle", nachdem Masern und Pocken in verschiedenen Rubriken aufgezeichnet worden sind. In London wird ein minimer Rückgang für kurze Zeit ab 1775 ersichtlich. Dieser kann aber wegen dem kleinen Ausschlag kaum auf eine eventuelle unterschiedliche Führung der Register zurückgeführt werden. In Genf ist das Erscheinungsbild durch den Umstand, dass die Pocken sich nicht endemisch festsetzten, sowieso nicht unmittelbar mit den anderen Gebieten vergleichbar.
Nach dem Rückgang der endemischen Mortalität in Schweden (vgl. Grafik 11) ab 1774 kam es noch zu verschiedenen schweren Epidemien. So starben in den Jahren 1779 15'102, 1784 12'453, 1789 6764, 1794 6740 und 1800 12'032 Menschen an den Pocken. Nach dem Seuchenzug des Jahres 1800, in welchem sich in ganz Europa die Pocken ein letztes Mal mit grösster Heftigkeit zeigten, stabilisierte sich die Pockenmortalität in Schweden bis 1810 auf einem sehr tiefen Niveau, welches sich ab 1810 nach der allgemeinen Durchführung der Schutzimpfung abermals verkleinerte. Nach einem unbedeutenden Hochschnellen der Pockenfälle 1816 wurde die Impfung als obligatorisch erklärt. In Schweden wurden die ersten Impfungen 1801 durchgeführt und von 1801 bis 1805 wurden 13 von Hundert Neugeborenen geimpft(397), zwischen 1806 und 1810 stieg diese Zahl auf 25%. Wie hoch der Einfluss der Schutzimpfung beim feststellbaren Rückgang der pockenspezifischen Mortalität ab 1801 bei diesen nicht allzu grossen Zahlen zu veranschlagen ist, kann kaum abgeschätzt werden. Einmal mehr ist man auf Spekulationen angewiesen: war das die gerade knapp benötigte Anzahl von Impfungen um die Infektionskette bei der in Schweden bestehenden Populationsdichte und -grösse zu unterbrechen(398)? Lag eine Veränderung der Virulenz beim Pockenvirus vor oder wurde der letale Virustyp durch einen harmloseren verdrängt (wie es sich seit 1774 abzuzeichnen begann, jedoch mit periodischem Auftreten der tödlichen Form 1779, 1784, 1789, 1794 und 1800)? Oder ist der Rückgang auf eine Kombination der oben erwähnten Faktoren zurückzuführen?
garfik 11 schw_alt.cht
Zwischen 1811 und 1816 wurden schon 44% der Neugeborenen geimpft. Auf die Altersverteilung bei den Pockenfällen hatte das Durchführen der Schutzimpfung insofern einen Einfluss, als vor allem die Altersklasse der 0 bis 5-jährigen (und in geringerem Ausmass auch der 5 bis 10-jährigen) den Pocken entzogen werden konnte. Sehr deutlich tritt dies in der Periode von 1811 bis 1816 hervor. Nach dem Erlass des Obligatoriums 1816 sinkt der Anteil bei den 0 bis 5-jährigen erneut. Wie Grafik 12 zeigt, hatten im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts speziell Kinder bis fünf Jahre unter den Pocken zu leiden. Der Rückgang der Pockenmortalität, welcher in Grafik 11 dokumentiert ist, kann also zum grössten Teil auf die Reduzierung der Pockentoten in der Altersklasse von 0 bis 5 Jahren zurückgeführt werden. Gins(399) erwähnt, dass ab 1820 die vor dem Beginn der Impfungen wenig betroffene Altersgruppe der über 30-jährigen nunmehr einen nicht unbeträchtlichen Anteil an den noch vorkommenden Pockentodesfällen lieferte, was vor allem auf das Nachlassen des Impfschutzes nach etwa 20 Jahren zurückzuführen ist. Von der Impfung profitierten also in erster Linie Kinder im Alter bis zu zehn Jahren, stellte diese Altersgruppe im 18. Jahrhundert doch den Löwenanteil der Pockentoten (zur Altersverteilung bei Pockenfällen im 18. Jahrhundert vgl. Kap. 4.4.).
Grafik 13 Finnland.cht
Finnland zeigt erneut das schon bekannte Bild des Verlaufs der
Pockensterblichkeit mit leichten Variationen. Hohe Ausschläge
der Pockenmortalität (über 11% 1763, oder 5801 Masern-
und Pockentote) wechseln sich mit Werten endemischer Sterblichkeit
in vier- bis fünfjährigem Intervall ab und dominieren
so die Kurve in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Was auffällt sind die hohen Mortalitätswerte, welche
trotz dem scheinbar endemischen Vorkommen der Pocken erreicht
werden. Wird der Anteil der Pockentoten am Gesamttotal der Todesfälle
ausgegeben(400), was im Falle Finnlands möglich ist, kann
festgestellt werden, dass die Anteile in Jahren mit epidemischen
Ausbrüchen wesentlich höher liegen als in London (wo
1796 ein maximaler Anteil von 18,4% erreicht wird). Aehnlich sind
sie denjenigen von Genf (ab 1750), wo die Pocken ab diesem Zeitpunkt
eine endemieähnliches Bild erlangten.
Grafik 14 suomi2.cht
Dies ist das bekannte Phänomen: bei starkem endemischem Vorkommen sollten die Ausschläge bei Epidemien nicht annähernd so heftig ausfallen wie bei schwacher oder nicht vorhandener Endemie. Erstaunlich ist jedoch, dass die Pocken (evt. Masern bis 1773) in Finnland, einem Land mit geringer Bevölkerung und kleiner Populationsdichte, endemisch vorkamen. Als einzige Erklärung für diesen Umstand kommt in Frage, dass bis 1773 sehr viele Maserntodesfälle in den Tabellen miteinflossen und ab 1775 die Inokulation ihren Teil beitrug, die Pocken im Land zu verbreiten(401).
Was an Finnland weiter auffällt, ist, dass nach der landesweiten Epidemie von 1800 nicht ein so signifikanter Rückgang festgestellt werden kann wie etwa bei London, Genf und Schweden. So kam es noch in den Jahren 1803/04, 1808, 1814, 1822 bis 1824 und 1832/33 zu ausserordentlich schweren Ausbrüchen. Als Ursache für diese Erscheinung der vergleichsweise hohen Pockensterblichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist wohl das fehlende Obligatorium der Schutzimpfung bis 1880 anzusehen(402). Zwar wurden die ersten Vaccinationen schon Ende 1801 vorgenommen, aber aufgrund des mangelnden staatlichen Zwanges konnte sich dieses Mittel nicht recht durchsetzen. Wieviele Impfungen vor der obligatorischen Einführung 1880 effektiv gemacht wurden, ist nicht bekannt. Eine mangelhafte Durchimpfung der Bevölkerung hatte im 19. Jahrhundert jedoch scheinbar Auswirkungen auf die Pockenmortalität, wie man am Beispiel Finnlands sieht. Aber einmal mehr ist im Vergleich mit den Zahlen des 18. Jahrhunderts dennoch ein Rückgang der Pockentodesfälle zu verzeichnen, der nur sehr schwer erklärbar ist. Wie gross ist der Anteil der (wenigen?) durchgeführten Impfungen am Verschwinden der Pocken zu veranschlagen? Kam es zu einer Veränderung oder Verdrängung der bis anhin dominanten Pockenviren? Finnland gehörte im 19. Jahrhundert zu Russland und dürfte so zusätzlich unter Einschleppungen (eines virulenten Virustyps?) aus diesem Land gelitten haben, in welchem im 19. Jahrhundert die Pocken noch weit verbreitet waren(403).
Vor dem 19. Jahrhundert, als noch kein wirksames Immunisierungsmittel
bekannt war und die Pocken entweder endemisch vorhanden waren
und/oder in Abständen von ca. vier bis sieben Jahren auftraten,
waren sie eine Krankheit, die in erster Linie Kinder im Alter
bis zu maximal zehn Jahren befielen. Mit sieben Jahren hatten
die meisten Kinder die Pocken aber schon überstanden. Der
Berliner Arzt Moehsen, welcher von 1758 bis 1774 eine detaillierte
Aufzeichnung der Pockentodesfälle führte, kommt zu folgendem
Schluss: "Unter den Krankheiten, welche die Sterblichkeit
der Kinder am meisten vermehren, oder welche doch besonders auffallend
sind, gehören vorzüglich das jetzt allgemeine Uebel,
die Pocken, indem der grösste Teil der Kinder nicht leicht
zu dem männlichen Alter gelangt, ohne vorher diese Krankheit
überstanden zu haben." (404) Sogar Gins(405) schreibt
noch 1917: "Bezüglich der Verteilung auf die verschiedenen
Lebensalter lehrt die Tabelle [von Moehsen], dass die unter Moehsen's
Zeitgenossen allgemein verbreitete Ansicht falsch ist. Es wurde
geglaubt, dass die Pocken den Erwachsenen und älteren Personen
gefährlicher seien als den Kindern. Moehsen's Aufzeichnung
beweist überraschend das Gegenteil dieser Annahme und lehrt
uns die Pocken als ausgesprochene Kinderkrankheit kennen."
Gins kommt nach dem Studium seiner Quellen zum Schluss, dass aus
der zeitgenössischen Perspektive des 18. Jahrhunderts die
Meinung dominierte, bei den Pocken handle es sich um eine Krankheit,
welche vor allem Erwachsene ergreife. Der Grund für diese
falsche Annahme kann in der fehlenden statistischen Grundlage
liegen, welche erstmals von Moehsen erhoben und auch ausgewertet
wurde(406). Gins ist der Meinung, dass die Statistik von Moehsen
das Bild der Pockenverteilung im 18. Jahrhundert ausgezeichnet
widerspiegelt, da alle verlässlichen Ueberlieferungen aus
dieser Zeit in gleichem Sinn berichten und primär Kinder
unter fünf Jahren den grössten Anteil an Pockentoten
stellten. Bei Moehsens Tabelle ist der Umstand nicht zu vergessen,
dass die Zahlen in Berlin erhoben worden waren, also einer grösseren
Stadt, in der die Pocken endemisch in Erscheinung traten. Die
Zahlen in Grafik 15 lassen diesen Schluss jedenfalls zu, die Jahre
1758, 1760 bis 1765, 1768, 1769, 1771, 1772 und 1774 sind als
Jahre mit endemischem Pockenvorkommen zu betrachten. 1759, 1766/67,
1770 und 1773 sind hingegen Jahre mit epidemischem Charakter.
Grafik 15 Berlin_2.cht
Gab es in einigen aufeinanderfolgenden Jahren nur wenige Fälle
zu verzeichnen, war dafür die nächste Epidemie umso
heftiger (wie in den Jahren 1766 und 1770). Nach endemischen Jahren,
die einige Pockentodesfälle aufzuweisen hatten, war dafür
der Ausschlag der folgenden Epidemie nicht überaus gross
(wie 1773). Weiter tritt sehr deutlich in dieser Zusammenstellung
hervor, dass die Toten beinahe ausschliesslich unter den Kindern
im Alter bis zu fünf Jahren zu finden sind. Einen kleinen
Anteil machen noch die Sechs- bis Zehnjährigen aus, jede
zusätzliche Altersgruppe von elf Jahren an aufwärts
ist im 18. Jahrhundert praktisch nicht mehr der Gefahr ausgesetzt,
an den Pocken zu sterben. Die Pocken sind anhand der vorliegenden
Zahlen als primäre Kinderkrankheit anzusehen! In den 17 Jahren
von 1758 bis 1774 wurden insgesamt 6705 Pockentodesfälle
registriert. Davon entfielen 5876 (oder 87,6%) auf die Altersgruppe
bis fünf Jahre, 742 (11%) verstarben im Alter zwischen sechs
und zehn Jahren, 42 (0,63%) waren bis zu 15 Jahre alt und von
den über Fünfzehnjährigen starben in diesem Zeitraum
nur 45 Personen (0,67%)! Nach Angaben von Gins waren die Pocken
im Zeitraum der Aufzeichnung die vierthäufigste Todesursache.
An der Spitze dieser Liste steht die "Brustkrankheit"
mit 11'570 Todesfällen, danach folgen "Jammer"(407)
mit 11'161 und "Auszehrung" mit 9147 Toten. Von allen
diesen drei genannten Krankheiten sind grösstenteils Kinder
betroffen. In diesem Zusammenhang wird vermutlich die Feststellung
Turpeinens(408) bestätigt, welche seiner Ansicht nach für
die Zeit bis 1800 auf das gesamte Europa zutreffen sollte: dass
zwar die Säuglingssterblichkeit zwischen 1751 und 1800 deutlich
zurückgegangen war, aber die Sterblichkeit an Pocken und
Masern eher zugenommen hatte. Mit anderen Worten: der Rückgang
der Säuglingssterblichkeit ist in seinem Anfangsstadium nicht
auf ein Absinken von Todesfällen an Pocken, Masern oder Keuchhusten
zurückzuführen, da ja die Säuglingsmortalität
dieser Krankheiten zwischen 1751 und 1800 im grossen ganzen unverändert
blieb, mit der Tendenz einer leichten Zunahme. Nach den Angaben
von Moehsen starben im ersten Lebensjahr 1790, im zweiten 1416,
im dritten 1113, im vierten 1001 und im fünften Lebensjahr
556 Berliner Kinder an den Pocken. Säuglinge bis zum ersten
Lebensjahr hatten also bei einer weiteren Aufschlüsselung
der Gruppe bis zu fünf Jahren den grössten Anteil. Kisskalt(409)
hat für das 18. Jahrhundert berechnet, dass am meisten Kinder
im zweiten Lebensjahr an den Pocken starben, dann in der zweiten
Hälfte des ersten, danach im dritten, vierten, dem gesamten
ersten, fünften und sechsten Lebensjahr mit bei zunehmendem
Alter ständig abnehmendem Risiko. In den ersten sechs Monaten
nach der Geburt war die Gefahr einer Erkrankung noch nicht so
gross. Die Möglichkeit des Krankwerdens vergrösserte
sich aber stets, je älter die Neugeborenen wurden. Die Ursache
für diesen Umstand liegt vermutlich darin, dass, wie schon
erwähnt, die Säuglinge vermehrt aus der isolierten Kinderstube
herauskamen und so zunehmend den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt
waren. Der "Risikokulminationspunkt" wurde mit dem zweiten
Lebensjahr erreicht, danach verringerte sich (statistisch gesehen)
die Gefahr einer Erkrankung ab dem dritten Lebensjahr. Der Grund
scheint simpel zu sein: inzwischen waren schon viele Kinder an
den Pocken erkrankt und es war ganz einfach nicht mehr ein so
grosses Potential an "pockenfähigen" Menschen vorhanden.
Kisskalt kommt zum Resultat, dass im 18. Jahrhundert von 100 in
einem Jahr Geborenen bis zu 14,9 (im Mittel 11,4) vor Ablauf des
ersten Lebensjahres an Pocken starben.
Anhand verschiedener Werke, teils demographischen Ursprungs, teils Schriften, die sich ausschliesslich mit den Pocken befassen, soll im Folgenden überprüft werden, ob wirklich fast ausschliesslich nur Kinder bis zu fünf Jahren von den Pocken betroffen waren.
In der Monographie der WHO ist zu diesem Thema lediglich zu erfahren, dass im 17. und 18. Jahrhundert die Pocken in grösseren Städten bei endemischem Vorkommen hauptsächlich eine Kinderkrankheit waren(410).
Hopkins, dessen Genfer Zahlen schon in Kap. 4.3.2. zur Sprache kamen, erwähnt, dass vor allem im 18. Jahrhundert speziell die Kinder von den Pocken betroffen waren(411).
Smith zeigt, dass im 18. Jahrhundert die Pocken auf dem Land in Grossbritannien, wo sie nicht endemisch waren, sowohl Kinder wie Erwachsene befallen konnten(412). So entfielen in Aynho bei der Epidemie 1723/24 von total 132 Pockenfällen 13 (9,9%) auf die Altersklasse von 0 bis 5 Jahren, 15 (11,4%) traten im Alter von 6 bis 10 Jahren auf, 33 (25%) zwischen 11 und 15 Jahren, 14 (10,6%) zwischen 16 und 20 Jahren, 25 (18,9%) zwischen 21 und 30 Jahren, 12 (9,1%) zwischen 31 und 40 Jahren, 10 (7,6%) zwischen 41 und 50 Jahren und nochmals 10 (7,6%) bei einem Alter von über 50 Jahren. An Plätzen mit endemischen Pocken wie London oder Chester (wo sich die Schutzmethoden nur sehr schwer durchzusetzen vermochten) handelte es sich aber um eine Krankheit, von der beinahe ausschliesslich Kinder betroffen waren(413). Menschen im Erwachsenenalter unterlagen an solchen Orten kaum mehr der Gefahr, an Pocken zu erkranken, da sie diese in ihrer Jugendzeit gewöhnlich schon überstanden hatten.
Bohn(414) schreibt, dass von den Pocken häufig Kinder ergriffen wurden, konkrete Angaben fehlen jedoch.
Klebs erwähnt lediglich, dass vielfach Kinder an den Pocken erkrankten.
Wernher(415) weiss 1882 folgendes zu berichten: "Wir wissen mit aller Sicherheit, dass vor 1800 so gut wie Niemand den Pocken entging (nullus evasit), dass von den Pockenkranken, fast ausschliesslich kleinen Kindern, ausser den Jahren schwerer Epidemien, ein Drittel vor Ablauf des ersten Lebensjahres und bis zu dem fünften Jahre die Hälfte aller Geborenen wieder an den Pocken gestorben, viele verkrüppelt, erblindet waren, dass die Pocken die zweit grösste Ziffer in der Sterblichkeitstabelle lieferten, unmittelbar nach den Lungenkrankheiten und in den häufigen Epidemiejahren die bei weitem grösste, dass, in gewöhnlichen Jahren, ihnen ein Achtel bis ein Zwölftel der Todten aus allen Todesursachen zum Opfer fiel, vorzugsweise Kinder, welche der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht hatten von Nutzen sein können und selbst noch keinen Genuss vom Leben gehabt hatten, sowie dass etwa 10mal so viel erkrankten, als starben."
Auch Lotz(416) ist der Meinung, dass die Pocken vor dem Beginn
des 19. Jahrhunderts vorwiegend eine Kinderkrankheit waren: "Diess
wird am besten durch die vor Einführung der Impfung verschwindend
geringen Zahlen erwachsener Blatterntodter in der häufig
von Blattern heimgesuchten Gegenden bewiesen." Im Gegensatz
zu anderen Autoren kann er seine Aussage mit statistischen Angaben
belegen. Erstaunlich ist dennoch, dass gerade bei den meisten
Werken, welche sich mit den Pocken befassen, nur approximative
Angaben über die Altersverteilung bei Pockentodesfällen
gemacht werden.
Ruesch(417) bezeichnet die Pocken als "wohl gefährlichste Kinderkrankheit im 18. Jahrhundert". Seiner Untersuchung haftet jedoch (wie auch dieser Arbeit) der Mangel an, dass "pockenspezifisches" Quellenmaterial erst ab 1795 vorliegt. Bei der Pockenepidemie des Jahres 1795 in Speicher rekrutierten sich die betroffenen Altersklassen vollständig aus Kindern bis zu zehn Jahren, wobei die Säuglinge weniger gefährdet waren. Nach seinen Angaben starben in Speicher zwischen 1840 und 1869 (nach der Einführung der Impfung) nur noch zwei Kinder an den Pocken(418).
Bei Sorgésa ist eine Zusammenstellung enthalten, welche den Schluss erlaubt, dass im 18. Jahrhundert vorwiegend Kinder an den Pocken zu leiden hatten(419). Jedoch unterliegt sie einer unzulässigen Schlussfolgerung, wenn sie schreibt, dass zwischen der "ersten Hälfte des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts" folgende zwei Faktoren eine wichtige Rolle beim Rückgang der Mortalität gespielt haben sollen: einerseits die Abschwächung von epidemischen Krankheiten, wobei speziell die Pocken erwähnt werden, deren Rückgang durch die allgemeine Verbreitung der Impfung erfolgt sein soll und andererseits durch eine Hebung des Lebensstandardes(420). Die Schutzimpfung mit tierischem Material war jedoch erst seit deren Entdeckung durch Jenner im Jahre 1796 bekannt. Ist von Impfung während dem 18. Jahrhundert die Rede, kann es sich dabei nur um die Inokulation gehandelt haben, die keine demographischen Effekte zur Folge hatte.
Rödel(421) beklagt in seiner demographischen Untersuchung von Mainz vor allem das äusserst mangelhafte Führen der Kirchenbücher. Meist wurden nur Unfälle, aussergewöhnliche Vorfälle und Todesursachen bei wichtigen Mitgliedern der Gemeinde verzeichnet. Selbst bei grassierenden Seuchen finden sich oft gar keine, selten summarische Angaben. Beispielsweise weisen im Jahr 1766, in welchem die Pocken stark auftraten, die Kirchenbücher der Mainzer Stadtpfarreien mit einer Ausnahme keinerlei Angaben oder Bemerkungen von Todesursachen dieser Epidemie auf. Nach Rödel ist dies "ein deutlicher Hinweis darauf, wie zufällig diese Vermerke zustandegekommen sind." (422) Dennoch kommt er zum Schluss, dass es sich bei den Pocken um eine Krankheit handelte, die vielerorts endemisch vorhanden war und meist in zeitlichen Intervallen von fünf bis sieben Jahren epidemisch hervortrat, wobei hauptsächlich noch nichtimmune Kinder erfasst wurden(423). Rödel geht das Problem der fehlenden oder mangelhaften Aufzeichnungen von der anderen Seite her an: Liegen keine oder nicht genügend Vermerke bezüglich der Todesursache in den Kirchenbüchern vor, macht er anhand der Proportion der Todesfälle zwischen Erwachsenen und Kindern sowie dem jahreszeitlichen Auftreten der unbekannten Seuche Rückschlüsse auf mögliche vorkommende Pocken(424). Anzufügen ist, dass die Pocken im Gegensatz zu den meisten anderen Infektionskrankheiten, welche bevorzugt im Spätsommer registriert wurden (bspw. Ruhr), relativ unabhängig von jahreszeitlichen Einflüssen erscheinen. Bei einer Epidemie mit einem hohen Anteil an toten Kindern, die nicht im Spätsommer auftritt, ist die Annahme deshalb zulässig, dass es sich dabei um die Pocken handelte. Fälle, welche von endemisch vorkommenden Pocken verursacht werden, können mit dieser Methode aber aus der Retrospektive nicht mehr erfasst werden.
Auch Norden teilt die Ansicht, dass "es besonders die Ein- bis Zehnjährigen [waren], die von dieser Krankheit heimgesucht wurden." (425) Er schreibt weiter: "Vor der Zähmung der Blattern waren gerade die nachwachsenden noch nicht immunisierten Kinder von dieser gefährlichen Kinderkrankheit bedroht. Dank der schnellen Ausbreitung der Schutzimpfung und ihrer sorgfältigen Durchführungspraxis war diese Bedrohung schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Butjadingen (norddeutsche Küstenregion) so gut wie verschwunden. Damit wuchsen auch hier die Chancen, das Kindesalter zu überleben und erwachsen zu werden." (426) Die Impfung hatte sicherlich einen gewissen Anteil am Rückgang der Kindersterblichkeit. Bei der Analyse der Kindersterblichkeitswerte(427) fällt aber auf, dass gerade in der Phase, in welcher nach unseren bisher gemachten Erfahrungen die Pocken einen grossen, wenn nicht sogar den grössten Tribut unter den Kindern forderten, nämlich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, die Sterblichkeit der Kinder im Alter bis 15 Jahre im Sinken begriffen war. In der Butjadinger Marsch erlebten in der Periode von 1701 bis 1725 von 100 Kindern nur 46 das 15. Altersjahr (wobei in dieser Zahl ebenfalls die Totgeburten eingerechnet sind), was eine Sterblichkeitsziffer von 54,4% ergibt. Dieser Wert stieg zwischen 1726 und 1750 auf 57,9%, zwischen 1751 und 1775 auf 60,7% und sank zwischen 1776 und 1800 auf 53,2%. Wüteten in diesem Zeitabschnitt die Pocken mit grösster Heftigkeit und konnten sich dank der grossen Verbreitung endemisch halten, sollten ja gerade fast ausschliesslich Kinder daran sterben und so - erweist sich die Annahme als richtig, dass die Pocken wesentliche Ursache der hohen Kindersterblichkeit waren - die Sterblichkeitsziffer der Kinder eher in die Höhe treiben, als sie absinken zu lassen, wie es der Fall war. In der Zeit von 1800 bis 1825 geht dieser Wert dann auf 39% zurück, sicherlich unter anderem auch bedingt durch die teilweise Verdrängung der Pocken(428). Die Pocken hatten unbestritten ihren Anteil an der hohen Kindersterblichkeit, als alleinige oder hauptsächliche Ursache für diese Erscheinung können sie jedoch nicht angesehen werden. Es müssen noch andere wesentliche Faktoren beteiligt gewesen sein, welche die grosse Kindersterblichkeit mitverschuldet haben.
Aehnliche Situationen wie in der Butjadinger Marsch liegen in Wardenburg und Luzern vor. In Wardenburg verlief die Entwicklung der Sterblichkeitsziffer folgendermassen:
1700 bis 1724: 20%
1725 bis 1749: 28%
1750 bis 1774: 26%
1775 bis 1799: 26%
1800 bis 1824: 26%
1825 bis 1849: 25%(429)
Die Kindersterblichkeit in Wardenburg war das ganze 18. Jahrhundert hindurch ausserordentlich niedrig und konnte im 19. Jahrhundert nicht mehr gesenkt werden. Nichts bekannt ist über das Vorkommen der Pocken. Für Luzern sind folgende Werte berechnet worden:
1740 bis 1749: 46%
1750 bis 1759: 40%
1760 bis 1769: 46%
1770 bis 1779: 41%
1780 bis 1789: 41%
1790 bis 1799: 36%
1800 bis 1809: 45%
1810 bis 1819: 39%(430)
In Luzern war die Kindersterblichkeit ebenfalls recht hoch, sank
aber nicht in so entscheidendem Ausmass nach dem Beginn des 19.
Jahrhunderts, obwohl wie in vielen anderen Orten der Schweiz auch
in Luzern mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die neue Methode
der Kuhpockenimpfung Einzug gehalten haben dürfte. In Luzern
kam es jedenfalls zumindest unter der Regierung der Helvetischen
Republik im Jahr 1798 zu einer heftigen Pockenepidemie(431), wobei
diese Krankheit in den vorhergehenden Jahren sicherlich wie in
anderen Schweizergebieten des öftern in Erscheinung trat.
Die Sterblichkeitsziffer war im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
gegenüber den Werten der Periode von 1740 bis 1769 dennoch
eher im Absinken begriffen, was daraufschliessen lässt, dass
bei vermehrtem Auftreten der Pocken seit ungefähr 1770 diese
nicht als Hauptursache für die hohe Kindersterblichkeit anzusehen
sind!
Zuletzt sollen noch die einzigen konkreten - wenn auch nicht detaillierten - Zahlen untersucht werden, welche für das Gebiet des Kanton Bern vor Anbruch des 19. Jahrhunderts gefunden wurden. Diese entstammen einerseits einer Zusammenstellung einer Pockenepidemie in Lausanne über den Zeitraum vom 17. August bis zum 20. November 1776(432) und andererseits aus der Zeit von Februar ("Hornung") bis Juni ("Brachmonat") 1798(433).
Die Epidemie des Jahres 1798 "hat unter den Einwohnern verschiedener Gegenden der Republik sich seit einiger Zeit zimlich stark geäussert"(434). Am 12. Juni forderte die Zentralregierung der Helvetischen Republik in Aarau von den einzelnen Kantonen Berichte über Umfang und Ausmass der Seuche ein. Obwohl die Epidemie recht bösartig gewesen sein muss, ist nur die "General Tabelle über die im Canton Oberland herrschende Poken=Epidemie"(435) überliefert. Im Kanton Oberland erkrankten insgesamt 288 Personen, davon waren 251 (87,2%) unter 10 Jahren und 37 (12,8%) über 10 Jahre alt. Von diesen 288 Kranken sind total 96 Personen gestorben, 85 (88,5% und einer Letalität von 33,9%) unter 10 Jahren und 11 (11,5% sowie einer Letalität von 29,7%) über 10 Jahre(436).
Im damaligen Kanton Bern wurde wahrscheinlich wegen der Hilflosigkeit dieser Epidemie gegenüber das Mandat "Wegen Einpfropfung der Poken oder Kindsblateren" vom 21. März 1777 erneut publiziert(437) (vgl. Kap. 3.2.), zudem ist im Bundesarchiv ein "Auszug aus dem Todten Rodel der Gemeine Bern"(438) erhalten geblieben. Dieser Auszug vermittelt folgendes Bild: 1796 sind in der "Gemeine Bern" 136 Kinder unter 10 Jahren und 362 Erwachsene über 10 Jahre gestorben, "Sa Summarum" 498 Personen. 1797 waren es 114 Kinder und 278 Erwachsene, insgesamt 392. In der ersten Hälfte des Jahres 1798, für welches dieser Auszug erstellt wurde, starben alleine 296 Kinder unter 10 Jahren und 272 Personen über 10 Jahre, in einem halben Jahr also 568 Menschen. Bei detaillierter Betrachtung der Zahlen fällt auf, dass in der ersten Hälfte des Jahres 1798 bei den Kindern unter 10 Jahren die erhöhte Anzahl der Todesfälle mehr oder weniger regelmässig auf die verschiedenen Kategorien fielen, nach denen erfasst wurde. So starben Knaben unter 10 Jahre, die Bürger waren 1796 21, 1797 12 und 1798 (1. Jahreshälfte) 39, Mädchen und Bürger: 1796 8, 1797 15, 1798 37, Aussere Knaben 1796 40, 1797 45 und 1798 101, Aussere Mädchen 1796 67, 1797 42 und 1798 119. Bei allen diesen Kategorien gab es in den ersten sechs Monaten des Jahres 1798 gegenüber den je 12 Monaten der beiden Vorjahre also ungefähr eine Verdoppelung der Todesfälle. Bei den Erwachsenen ist auffallend, dass die Werte von 1798 bei den männlichen und weiblichen "Bürgern" zwar nach der ersten Jahreshälfte schon recht hoch waren, vor allem sind aber bei den männlichen "Ausseren" schon ausserordentlich viele Tote verzeichnet worden, dies ganz im Gegensatz zu den weiblichen "Ausseren", deren Wert als einziger nicht speziell über denjenigen der vorhergehenden Jahre liegt(439).
Da wie erwähnt das Jahr 1798 ein Pockenjahr war, scheint hier also offensichtlich der Fall vorzuliegen, dass sehr stark Kinder im Alter bis zu 10 Jahren von den Pocken betroffen waren, da gerade diese Altersgruppe allein in der ersten Hälfte des Jahres 1798 gegenüber den ganzen beiden Vorjahren eine Zunahme der Todesfälle von rund 135% aufzuweisen hatte, im Gegensatz zu den über Zehnjährigen, die nach den ersten sechs Monaten des Jahres 1798 noch etwa 15% unter dem durchschnittlichen Todesfallwert von 1796 und 1797 lagen (statt, wie es bei Normaljahren eigentlich der Fall sein sollte, ungefähr 50%). Nehmen wir weiter an, dass von den Personen, welche das 10. Lebensjahr bereits zurückgelegt haben, lediglich solche an Pocken erkrankten, die noch nicht über 15 Jahre alt waren, bestätigt sich auch hier einmal mehr das Bild, dass die Pocken vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend oder fast ausschliesslich eine Kinderkrankheit waren.
Aehnlich ist das Bild der Epidemie von 1776 in Lausanne, wobei
der buchführende Arzt hier nur die an den Pocken Verstorbenen
registrierte. Insgesamt starben vom 17. August bis zum 20. November
28 Knaben und 26 Mädchen, total 54 Kinder(440). Die älteste
Person starb im Alter von 9 Jahren und 9 Monaten. Alle Todesfälle
entfielen also auf die Gruppe der noch nicht das 10. Lebensjahr
zurückgelegten Kinder. Neun Kinder (oder 16,6%) kamen wegen
den Pocken ums Leben, die jünger als ein Jahr waren. Im Alter
zwischen einem und vier Jahren verstarben 34 (63%) an den Pocken
und von den Fünf- bis Zehnjährigen nochmals 11 (20,4%).
Einmal mehr muss das Fazit gezogen werden, dass es sich bei den
Pocken zumindest im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts um eine
Krankheit handelte, die hauptsächlich Kinder befiel(441).
Wesentlich anders war die Situation dann im 19. Jahrhundert, wie am Beispiel der Epidemie von 1870 bis 1872 zu sehen ist, wo bei den meisten aufgetretenen Fällen die Altersangaben vorliegen(442). Gesamthaft sind 2159 Personen an Pocken erkrankt und 390 gestorben, bei denen das Alter bekannt war. Die meisten Pockenkranken, 637 oder 29,5%, wurden im Alter von 21 bis 30 Jahren gezählt. Danach folgte die Klasse von 31 bis 40 Jahren mit 404 Erkrankungen (18,7%). Erst an dritter Stelle erscheinen dann die Kinder bis zu 10 Jahren mit 320 Fällen (14,8%), an vierter Stelle kommen die 11 bis 20-jährigen mit 286 Fällen (13,2%), danach die Gruppe von 41 bis 50 Jahre mit 281 Kranken (13%), im Alter zwischen 51 und 60 Jahren traten 164 Erkrankungen (7,6%) auf und zwischen 61 und 75 Jahren gab es noch 67 Fälle (3,1%). Ein erstaunliches Bild, vergleicht man mit den Angaben des 18. Jahrhunderts. Es scheint beinahe, dass sich die Pockenfälle nun fast gleichmässig über alle Altersklassen hinweg verteilen, mit stärkster Berücksichtigung der wohl aktivsten Menschen im Alter zwischen 21 und 40 Jahren (diese Gruppe hatte z.B. auch die Belastung der Grenzbesetzung während des deutsch-französischen Krieges zu tragen). Die Beobachtung, dass die Altersklasse der 21- bis 30-jährigen am stärksten betroffen war, wurde jedoch schon beim Ausbruch von 1831/32 gemacht: "Es wurden von den Pocken ergriffen, Subjekte vom Alter von 5 bis 40 Jahren, jedoch die Mehrzahl zwischen 18 bis 30 Jahren." (443)
Die Letalitätswerte fallen hingegen sehr unterschiedlich aus: in der Gruppe bis 10 Jahre ergibt sich eine Letalität von 40%. Danach folgt die Klasse von 51 bis 60 Jahren mit 27,4%, 61 bis 75 Jahre mit 26,9%, 31 bis 40 Jahre mit 18,3%, 41 bis 50 Jahre mit 15,6%, 21 bis 30 Jahre mit 11,1% und schliesslich 11 bis 20 Jahre mit 6,3%. Erkrankte man im Alter zwischen 11 und 30 Jahren war die Gefahr am geringsten, an den Pocken zu sterben. Am grössten war sie bei der Gruppe bis zu 10 Jahren. Vermutlich verursachten hauptsächlich Säuglinge diese grosse Letalität. Mit zunehmendem Alter wurde das Risiko kleiner, im Erkrankungsfall zu sterben. Mit fortschreitendem Alter ab dem 50. Lebensjahr nahm die Letalität aber wieder zu. Wird die Verteilung der Erkrankungen und die Letalität lediglich auf die Gruppen über sowie unter 10 Jahre berechnet, um sie mit denjenigen der Epidemien von 1798 im Kanton Oberland und 1776 in Lausanne zu vergleichen, erhalten wir folgende Resultate:
1776 waren sowohl 100% der Kranken wie der Toten unter 10 Jahre alt.
1798 waren 87,2% der Erkrankten und 88,5% der Pockentoten unter 10 Jahre alt und 12,8% der Erkrankten sowie 11,5% der Toten über 10 Jahre.
1870 bis 1872 waren 14,8% der Kranken und 30,8% der Toten bis zu 10 Jahre alt und 85,2% der Kranken sowie 69,2% der Toten über 10 Jahre alt.
Zu bedenken bei diesen Angaben ist weiter, dass die bis zu zehn Jahre alten Kinder im Verhältnis zu den übrigen Altersgruppen nur einen sehr kleinen Anteil an der gesamten Bevölkerung darstellen, mit anderen Worten: die Altersklassen unter und über 10 Jahre verhalten sich nicht proportional zueinander.
Werden die Werte dieser drei Epidemien von 1776, 1798 und 1871/72
aber als repräsentativ für die Verteilung der Erkrankungs-
und Todesfälle angesehen, sieht man, dass sich der Charakter
der Pocken veränderte von einer Kinderkrankheit, wie sie
noch im 18. Jahrhundert eine war, zu einer allgemeineren Krankheit
hin, welche nicht mehr nur bevorzugt Kinder befiel, sondern ebenfalls
Erwachsene.
Es scheint nach der Ueberprüfung und dem Vergleich der verschiedenen Werke und Quellen eindeutig zu sein, dass es sich bei den Pocken im 18. Jahrhundert (zumindest ab der 2. Hälfte) um eine Krankheit handelte, die - abgesehen von Ausnahmefällen - nur Kinder im Alter bis zu zehn Jahren befiel. Der grösste Anteil der Opfer ist jedoch unter den bis Fünfjährigen zu finden. Damit lässt sich zu einem grossen Teil auch das mehrheitliche Schweigen der Quellen erklären: Eine Krankheit, die wirklich fast ausnahmslos Menschen in ihren ersten Lebensjahren betraf, weckte bei deren ökonomischer Geringschätzung(444) sicherlich nicht ein überaus grosses Interesse. Was die Aufmerksamkeit den Pocken gegenüber weiter reduzierte, war ihre Alltäglichkeit. Ein grosser Teil der Menschen des 18. Jahrhunderts dürften in ihrer Jugendzeit unabhängig von der sozialen Stellung innerhalb der Gesellschaft an den Pocken gelitten haben und durch die auf diese Art errungene Immunität waren sie im Erwachsenenalter davon nicht mehr betroffen. Weiterhin waren sie aber von einer Vielzahl von anderen Krankheiten und sonstigen Umwelteinflüssen substantiell in ihrem Leben gefährdet, sei dies nun Ruhr, "Fieber" oder eine drohende Hungersnot. Gerade den viel unverhoffter zuschlagenden Krankheiten wie der Ruhr und den verschiedenen Fieberarten wurde seitens der Obrigkeit und der damaligen Schulmedizin das grössere Interesse entgegengebracht als dem unabwendbaren Uebel der "Kinderblatteren", das ja sowieso nur die leicht zu reproduzierenden Kinder befiel.
Die Pocken kamen vermutlich vor dem 16. Jahrhundert in Europa vor, diese Krankheit stellte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Bedrohung für das menschliche Leben dar (wobei der entscheidende Punkt nicht die Frage nach der Existenz der Pocken ist, sondern nach deren Existenz in milder Form). Bis etwa Mitte des 16. Jahrhunderts handelte es sich bei den Pocken vorwiegend um eine endemische Kinderkrankheit mit unbedeutender Mortalität.
Seit Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt die Zahl der registrierten Pockenepidemien in allen Teilen Europas zuzunehmen und auch die Wissenschaft befasste sich zunehmend mit dieser Krankheit.
Während dem 17. und vor allem dem 18. Jahrhundert kam es in ganz Europa (von Island bis Italien, von Russland bis England) zu schweren Pockenausbrüchen.
Während 18. Jahrhundert hatten vor allem die europäischen Grossstädte wie London, Berlin und Wien sowohl endemischen wie auch epidemischen (im 4 bis 8-Jahres-Zyklus) Pocken einen hohen Tribut in Form von Kinderleben zu zahlen. Auf dem Land (und allgemein in Gebieten mit ungenügend grosser Population und Bevölkerungsdichte) konnten sich die Pocken aber nicht endemisch halten, daher (weil die Pocken nicht ständig vorkamen) waren an diesen Orten nicht nur ausschliesslich Kinder betroffen, sondern ebenfalls erwachsene Personen. Hier fand auch die Inokulation eine bessere Aufnahme als in den Städten.
Der markante Rückgang der Pockenhäufigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich eindeutig nicht mit der damals vorherrschenden Klimakonstellation begründen.
In Genf vermochten sich die Pocken dank der zu geringen Bevölkerungsdichte und -grösse nicht endemisch zu halten, dafür waren bei einem Ausbruch die Folgen gravierender (was sich in einem höheren prozentualen Anteil von Pockentoten am Gesamttotal der Todesfälle des betreffenden Jahres verdeutlicht, im Gegensatz zu London, wo sich dieser Anteil bei epidemischen Ausbrüchen nur wenig vom endemisch verursachten Prozentwert abzuheben vermag).
Bis etwa 1800 waren von den Pocken fast nur Kinder im Alter bis zu fünf Jahren betroffen (dies auch in Bern). Dennoch können sie nicht als alleiniger und ursächlicher Faktor für die hohe Kindersterblichkeit angesehen werden.
Gerade weil vor dem 19. Jahrhundert nur Kinder unter den Pocken zu leiden hatten, lässt sich das häufige Schweigen der Quellen mit deren geringem ökonomischen Wert begründen, d.h. weil vorwiegend Kinder betroffen waren, die leicht zu reproduzieren waren und die über keinen grossen Wert verfügten, war es nicht nötig, sich mit den Pocken verstärkt auseinanderzusetzen. Dies sollte erst geschehen, nachdem es zu einer Verschiebung der von den Pocken am stärksten betroffenen Altersklassen kam.
Bedingt unter anderem durch die Schutzimpfung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Staaten zur Anwendung gelangte, kam es zu einer Verschiebung der von den Pocken am meisten betroffenen Altersklassen: nicht mehr beinahe ausschliesslich Kinder unter fünf Jahren hatten daran zu leiden, sondern die Pockenfälle verteilten sich regelmässiger über sämtliche Altersklassen (mit einer Spitze nach wie vor bei den unter Fünfjährigen und den etwa 15 bis 30-jährigen).
In den Quellen für den Kanton Bern sind die Pocken erst ab den 1770er Jahren leidlich dokumentiert, vor dieser Zeit ist lediglich zu erfahren, dass Inokulationen durchgeführt wurden. Aufgrund der vorliegenden Dokumente liegt die Vermutung nahe, dass ab diesem Zeitpunkt die Pocken im Kanton Bern vermehrt auftraten als in den Jahren zuvor. Ob die erhöhte Verbreitung auf die Zunahme der Inokulationen und die nachlässige, ja sogar fahrlässige Haltung der mit dieser Methode behandelten Personen, die ungeachtet ihrer Gefährlichkeit(445) für die Umgebung sich in der Oeffentlichkeit bewegten(446), zurückzuführen ist oder ob andere Gründe massgeblich an diesem Phänomen beteiligt gewesen sind, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht bestimmen. Ebenfalls erscheinen in den Daten von BERNHIST ab 1770 häufiger Angaben über Pockenfälle, in diesem Jahr wurden in den Kirchgemeinden Ins, Siselen, Gsteig, Ringgenberg und Oberwil mehrere Pockentote registriert. Und die Annahme, dass in der Stadt Bern ebenfalls durch Pocken verursachte Kranke und Tote vorkamen, erweist sich sicherlich nicht als falsch. Aufgrund der erscheinenden überlieferten Weisungen und Publikationen des Sanitätsrates von 1773 kann geschlossen werden, dass bis in dieses Jahr immer wieder Menschen an den Pocken erkrankten. Ueberliefert sind folgende Angaben: 1771 in Muri bei Bern und in Seeberg und 1772 in Vinelz(447). Wenn auch keine schriftlichen Aufzeichnungen existieren, kann dennoch davon ausgegangen werden, dass in der Stadt Bern wiederum Fälle vorkamen, diese lassen sich jedoch genau sowenig beziffern wie diejenigen von Muri oder Seeberg.
Gab es in der Zeit von etwa 1770 bis 1773 eine erhöhte Pockenfrequenz (auch wenn uns deren Ausmass nicht bekannt ist), scheint es, dass in den Jahren von 1774 bis 1777 der Kanton Bern von dieser Krankheit grösstenteils verschont blieb, hier also das Wellental der Vier- bis Siebenjahresperiode im Zyklus des Erscheinens der Pocken durchwandert worden ist, auch wenn die Krankheit sich im Kanton Bern ziemlich sicher nicht endemisch halten konnte, sondern stets auf Einschleppungen angewiesen war(448). Dass es dennoch zu diesen Wellenbewegungen kam, kann damit einen Zusammenhang aufweisen, dass nach einer Periode von vier bis sieben Jahren genügend nichtimmune Kinder nachgewachsen waren, was die Verbreitung der Krankheit nach einer Einschleppung (und nicht nur beim endemischen Vorkommen) in dem Sinn ungemein erleichterte, als die Infektionskette in Ermangelung an pockenfähigen Kinder nicht schon vorzeitig abbrach, sondern genügend Menschen vorhanden waren, welche die Krankheit weiterreichten, bis sie epidemisches Ausmass annahm(449).
1777 war hingegen wieder ein "Pockenjahr". In der Datenedition BERNHIST werden Pockenkranke in Meiringen und Steffisburg erwähnt. Im Herbst kam es zum Ausbruch einer Epidemie in der Stadt Bern(450). Einmal mehr muss auch hier festgestellt werden, dass kein Material über die Grösse der Seuche vorliegt. Teilweise lässt sich dieser Umstand sicher mit dem zeitgleichen Beginn einer Ruhrepidemie erklären (in der Stadt Bern begann diese in der Schosshalde(451)). Diese Epidemie, welche 1777 begann und 1778 ihr volles Ausmass erreichte(452), war nach derjenigen von 1750 eine der schwersten dieses Jahrhunderts im Kanton Bern. Die Folge war, dass durch das praktisch zeitgleiche Auftreten zweier verschiedener Infektionskrankheiten die Zahlen derjenigen Krankheit eher einer Registrierung entgehen konnte, die weniger spektakulär und gefährlich erschien: der Pocken. Trotzdem verlangte nach dem Ende des Pockenausbruchs der Sanitätsrat von den Stadtärzten am 14. März 1778 einen "gründlichen und umständlichen medicinischen Bericht in Ansehen der Kinderblatteren"(453) und eine "exacte Verzeichnuss" der erkrankten, verstorbenen und genesen Personen. Dieser Rapport konnte aber nicht nur wegen der im Anmarsch begriffenen Ruhr (die jedoch eher in der heissen Jahreszeit den Höhepunkt erreicht haben dürfte(454) und nicht schon im März) nicht erstellt werden, sondern auch "indem die meisten [Pockenkranken] durch Fremde, Medici, Chirurgi und Apotheker in Ihrer Krankheit besorgt und tractiert worden sind, auf welche [...] das Insul Collegy weder Einfluss noch Gewalt habe, solche über ihre Praxis zu examinieren noch in einiche Verantwortung zu ziehen, daneben haben viele Kinder die Blattern gehabt, ohne von Jemandem, der die Arzney Kunst ausübt, besucht zu werden, sondern es haben nach ausgestandener Krankheit viele Eltern in den Apotheken eine oder mehrere Laxierungen genohmen, als worin die ganze Kur insgemein bestehet." (455)
Nun scheint es bis 1781 oder 1782 gedauert zu haben, bis sich die Pocken erneut in grösserem Umfang zeigten. Einerseits liegen 1782 wieder schriftliche Unterlagen des Sanitätsrates zu diesem Thema(456) vor (dabei kann beinahe schon allein deren Existenz als Indiz für eine epidemische Ausbreitung der Pocken angesehen werden!) und andererseits gab es nach der Datenedition BERNHIST 1781 in Roggwil und Meiringen und 1782 in Bargen und Büren Pockentote. Auch für 1787 finden sich Hinweise auf den Ausbruch einer Epidemie in der Stadt Bern(457).
Die spärlichen Quellen des Staatsarchives beginnen von diesem Jahr an vollständig zu schweigen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Vermehrt liegen aber nun Zahlen in der Datenedition BERNHIST vor(458) (auffallend dabei ist, dass nie ein Fall in einer grösseren Stadt aufgezeichnet wurde, vgl. Kap. 1.4.1.), die den Schluss erlauben, dass die zwei letzten Dezenien des 18. Jahrhunderts mehr oder weniger heftig von den Pocken betroffen waren. Zieht man weiter in Betracht, dass keine Angaben von den Städten und grösseren Ortschaften wie Bern, Burgdorf, Thun und Biel überliefert sind, kann das Bild, welches man sich von den die Pocken betreffenden Verhältnisse zu machen hat, abermals verschärft werden.
Das tatsächliche Ausmass der Pockenkrankheit abzuschätzen, ist jedoch kaum möglich, da häufig nicht eine Krankheit allein und isoliert auftrat, sondern sie gemeinsam mit anderen zusammen (in erster Linie ist für das 18. Jahrhundert einmal mehr die Ruhr zu nennen) gleichzeitig ihren Tribut forderte und damit die Sterblichkeit in die Höhe trieb, welche nicht mehr präzise nach den einzelnen Todesursachen aufgeschlüsselt werden kann.
Mit Sicherheit traten aber in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts
die Pocken noch einmal verhältnismässig stark auf, was
mit der europäischen Pandemie des Jahres 1796 einen Zusammenhang
haben kann(459). 1798 (mit dem Beginn der Epidemie ausgangs 1797
und deren Ende anfangs 1799) kam es zu verschiedenen Fällen
auf dem Gebiet des damaligen Kantons Bern(460), und im Kanton
Oberland erkrankten 1798 288 Personen an den Pocken. Mit ein Grund
für das Aufflammen dieser Krankheit können die Kriegshandlungen
im Zusammenhang mit der Helvetik und die dadurch herumziehenden
Soldaten gewesen sein, welche für eine gründliche Verbreitung
der Pocken sorgten. Es geschah jedenfalls häufig, dass als
Begleiterscheinung von Kriegen und Truppenbewegungen die Pocken
in zuvor nicht betroffenen Gegenden verbreitet wurden(461). Gleichzeitig
war es wegen den turbulenten Verhältnissen nicht mehr möglich,
die hygienischen Abwehrmassnahmen, welche sich seit den Pestalarmen
bewährt hatten, zu vollziehen(462).
Aufgrund des vorhandenen Materials lässt sich der vorläufige Schluss ziehen, dass sicher in den Jahren 1770 bis 1773, 1777 und 1778, 1781 und 1782, um 1788, sporadisch 1793 sowie 1794 und 1798/99 die Pocken vermehrt auftraten.
Damit ist auch der Intervall zwischen den einzelnen Ausbrüchen
genügend kurz, um einerseits die Hypothese von "nichtendemischen"
Pocken im Kanton Bern nicht umzustürzen und andererseits
diejenige aufrechtzuerhalten, dass es sich bei den Pocken im 18.
Jahrhundert ausschliesslich um eine Kinderkrankheit handelte,
da bei Epidemien in diesen Abständen vorwiegend Kinder bis
10 Jahre betroffen wären.
Diesen Angaben soll nun Grafik 16 gegenübergestellt und der
Versuch unternommen werden, in diesen Jahren eventuell eine durch
Pocken verursachte Mortalitätskrise(463) zu erkennen. Der
Krisenindex wurde nach der Formel von Dupâquier(464) folgendermassen
berechnet:
Wobei Ix der berechnete Wert für das
Jahr x ist, Dx die Todesfälle des Jahres
x darstellen, M10 der Durchschnitt der Todesfälle
der dem Jahr x vorangegangenen zehn Jahre und stddev10
die Standardabweichung der Todesfälle der dem Jahre x vorangehenden
zehn Jahre ist. Für Ix erhält man
einen Wert, welcher in der Regel zwischen -3 und +10 zu liegen
kommt. Dupâquier ordnete (oder indexierte) das Resultat
Ix einem bestimmten Krisentyp zu: Ix-Werte
zwischen 1 und 2 wurden zum Krisentyp 1 (=keine Krise), 2 bis
4 zum Krisentyp 2 (=leichte Krise), 4 bis 8 zum Krisentyp 3 (=mittlere
Krise), 8 bis 16 zum Krisentyp 4 (=schwere Krise), 16 bis 32 zum
Krisentyp 5 (=katastrophale Krise) und über 32 zum Krisentyp
6 (=Superkrise).
fik 16 index.sas
In der Phase von 1740 bis 1920 kann im Kanton Bern (in den Grenzen von 1980) eine einzige "schwere Krise" registriert werden. Dabei handelt es sich um den Ausbruch der Roten Ruhr von 1750, bei welchem ungefähr 11'400 Menschen zu Grabe getragen wurden, davon etwa zwei Drittel Kinder(465). Mittlere Krisen gab es in den Jahren 1817 (nach klimatisch bedingten Missernten und darauf folgenden Hungersnöten, in diesem Sinn also eher eine "Krisenmortalität") und 1918 bei der grossen Epidemie der "Spanischen Grippe" (Influenza) (466).
Zu "leichten Krisen" kam es im 18. Jahrhundert in den
Jahren 1748, 1778, 1793 und 1795. Für das Jahr 1748 fehlt
eine Erklärung, 1778 war die primäre Hauptursache, welche
zum Ausschlag führte, sicherlich die Rote Ruhr (es erkrankten
in Deutschbern ohne Aargau etwa 3000 Menschen und ungefähr
600 starben(467)). Die Pocken, die gleichzeitig vorkamen, waren
aber sicher ebenfalls zu einem gewissen Teil an der Verursachung
dieser "leichten Krise" mitbeteiligt. Die einzelnen
Anteile der zwei unterschiedlichen Krankheiten am Ansteigen der
Sterblichkeit lassen sich jedoch kaum beziffern. Auch 1793 und
1795 war es wiederum die Ruhr, welche als Ursache für den
Krisentyp 2 dieser Jahre angesehen werden muss(468). Gleichzeitig
kamen jedoch Pockenfälle vor, die zusammen mit der Ruhr die
Mortalität in die Höhe trieben.
Als Fazit muss gezogen werden, dass diese berechneten Krisenindexe den Rückschluss auf stattgefundene Pockenepidemien im 18. Jahrhundert nicht erlauben. Die Disenterieepidemien kommen hingegen deutlich zum Ausdruck und vermögen (beispielsweise 1778) Ausbrüche von Pocken zu überdecken. Aufgrund dessen drängt sich der Schluss auf, dass im Kanton Bern ab 1750 keine wirklich schweren Pockenepidemien mit überregionalem Charakter vorkamen. Höchstens lokale Ausbrüche mit entsprechend geringen demographischen Auswirkungen (im Rahmen des Gesamtkantons) sind möglich gewesen(469). Dies würde wiederum mit der Beobachtung übereinstimmen, dass in sogenannten Epidemiejahren gewöhnlich ein gehäuftes Auftreten der Krankheit über das ganze Land hinweg nicht festzustellen war, sondern nur in einzelnen Städten und Dörfern. Sogar in grossen Städten, die endemisch von den Pocken befallen waren, gab es Ausbrüche, die nur einzelne Quartiere betrafen(470). Ein möglicher Grund für diese beschränkten Ausdehnungen trotz der grossen Infektiosität der Pocken kann der schon in Kap. 2.4.4. erwähnte Grund sein, dass infizierte Patienten vor dem Erscheinen der sichtbaren Symptome und bevor sie noch weiter als Ueberträger fungieren konnten sich gewöhnlich schon ziemlich krank und elend fühlten und sich deshalb von der Gemeinschaft freiwillig isolierten, indem sie sich im Bett aufhielten.
Jedoch darf die Situation nicht beschönigt werden: können keine wirklich schweren Ausbrüche und Epidemien festgestellt werden, welche die Menschen nachweislich gleich reihenweise dahinrafften, bedeutet das nicht, dass diese Krankheit als Mitverursacher der Kindersterblichkeit vernachlässigt werden soll. Problematisch sind nicht die Epidemien (oder auch Pandemien), welche, wären sie wirklich ausserordentlich schwer gewesen, auf der Grafik erscheinen müssten(471), sondern die Todesfälle, die durch lokale (im Kantonsgebiet "herumziehende") Epidemien verursacht worden sind oder nur vereinzelt ohne überdurchschnittliche Häufung von Todesfällen auftraten. Diese sind aber mit Hilfe von Grafik 16 nicht rekonstruierbar. Dabei wurden sie zudem vermutlich (ausser eventuell bei wirklich schweren, aber lokal beschränkten Ausbrüchen) kaum von der Obrigkeit zur Kenntnis genommen und dementsprechend nirgends dokumentiert, folglich unterlagen sie damit faktisch dem Phänomen des "kollektiven Nicht-Bewussten"(472). Mit anderen Worten: die Pocken forderten im Kanton Bern während des 18. Jahrhunderts mehr oder weniger (je nach Charakter der auftretenden Pocken, was vermutlich mit dem jeweils dominierenden Virustyp einen Zusammenhang hat) jahraus jahrein ihren nicht unerheblichen Tribut an Kinderleben. Neben den beim Erscheinen schrecklicher wütendenen Krankheiten wie der Roten Ruhr, die in wenigen kurzen Seuchenzügen eine grosse Zahl von Opfern forderte, schien der kleine, aber stetige Verlust von Kindern durch die Pocken vernachlässigbar.
Und im Gegensatz zu von den Pocken heftig heimgesuchten Orten
wie London, Paris, Berlin oder Wien schienen die Zustände
bezüglich dieser Infektionskrankheit im Kanton Bern wirklich
beinahe idyllisch zu sein(473), auch wenn dabei eine nicht zu
unterschätzende Anzahl von Menschen (beinahe ausschliesslich
Kinder) auf qualvolle Weise verstarben.
Mit Hilfe von Grafik 16 ist die Rekonstruktion von Pockenepidemien im Kanton Bern nicht möglich. Aus diesem Grund wird versucht, von einer anderen Seite her dieses Problem anzugehen.
Von Genf sind sowohl die Zahl aller Todesfälle wie auch die Jahre mit Pockenepidemien bekannt. Für Grafik 17 wurde nun ein Ix-Wert von Genf berechnet, welcher demjenigen von Bern gegenübergestellt wurde. Um die Nuancen der Kurve nicht zu verlieren, wurde der Ix-Wert nicht dem entsprechenden Krisentyp zugeordnet, sondern mit allen Schwankungen dargestellt. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Krisentyp soll durch die Referenzlinien bei 1, 2, 4 und 8 deutlich gemacht werden, das heisst, Punkte, die zwischen 1 und 2 liegen entsprechen dem Krisentyp 1 ("keine Krise"), diejenigen von 2 bis 4 dem Typ 2 ("leichte Krise"), zwischen 4 und 8 dem Typ 3 ("mittlere Krise") etc. Weiter erscheint ein Symbol auf der Grafik in den Jahren der Vergleichsperiode, in welchen in Genf der Anteil der Pockentoten am Total aller Todesfälle 9% oder mehr ausmachte(474).
Grafik 17, ge_be_anno.sas. DIESE gRAFIK SOLL 1 A4-SEITE GROSS
WERDEN!
Erstaunlich am Genfer Kurvenverlauf ist, dass die Pocken im Vergleichszeitraum von 1735 bis 1812 nur gerade 1800 an einer nach der Klassierung Dupâquiers "mittleren Krise" massgeblich beteiligt gewesen sind. Der Wert 2 für den Typ "leichte Krise" in Jahren mit Pockenepidemien vermochte lediglich 1737, 1764 und 1776 knapp überstiegen werden und 1759 liegt Ix minim unter dieser Grenze.
Auffällig ist weiter, dass mit Hilfe dieser nichtindexierten Angaben die durch Pocken verursachten Ausschläge im Kurvenverlauf recht deutlich ersichtlich werden, auch wenn diese mit Ausnahme von 1800 sonst nie in grosse Höhen steigen. Es scheint sogar, als ob der Verlauf der Kurve ausser in den Jahren 1746, 1768, 1782, 1785 und 1804 direkt vom Zyklus der Pocken abhängig wäre. Zu bemerken ist noch, dass die Kurven von Genf und Bern ab 1760 bis 1792 erstaunlich stark parallel verlaufen. So erscheint plausibel, dass wenn die Epidemie von 1771/1772 in Genf (10,5% Anteil der Pockentoten am Total der Todesfälle oder 78 Pockentote, bzw. 7,5% oder 62 Pockentote) auf der Kurve erscheint, auch die uns bekannt gewordene von Bern zu sehen sein sollte. Tatsächlich ist 1771 und 1772 die Berner Kurve im Vergleich mit den zwei Vorjahren relativ hoch (auch wenn sie nur einen Ix-Wert von ca. 0,6 erreicht), um 1773 nach dem Ende der Epidemie im Frühling massiv abzufallen. Die Epidemie dieser Jahre widerspiegelt sich also in Grafik 17 mit einem feinen Ausschlagen. Auch 1777 ist die Berner Kurve angesichts eines Pockenausbruchs am Steigen und erreicht 1778 in Kombination mit der Ruhr einen vorläufigen Höhepunkt. Gerade aufgrund der vorliegenden Quellen drängt sich zudem die Annahme auf, dass die Berner Epidemie von 1777 von Genf her dem Genfersee entlang via Morges (wo die Pocken im Frühling 1776 in Morges und der Umgebung ausbrachen) und Lausanne (wo sich der Ausbruch vom 17. August bis zum 20. November 1776 manifestierte) nach Bern verschleppt wurde.
Ebenfalls 1782, als vermutlich eine Pockenepidemie stattfand,
ist die Kurve wieder relativ hoch (auch wenn in Genf 1782 lediglich
43 Pockentote registriert wurden). Beim nachgewiesenen Ausbruch
von 1787(475) kann jedoch schwerlich von einer Visualisierung
desselben in der Kurve gesprochen werden, da der Wert seit mehreren
Jahren konstant tief liegt. 1793 und 1795 ist wohl einmal mehr
grösstenteils die Ruhr für den überdurchschnittlich
grossen Wert verantwortlich zu machen. Der Ausschlag von 1798
kann aber auf das Wirken der Pocken zurückgeführt werden.
Was weiter erstaunt, ist, dass Bern von der europäischen
Pandemie der Jahre 1800/1801 nicht betroffen war, ganz im Gegensatz
zu Genf und Neuenburg(476), mit welchem Bern noch durch eine gemeinsame
Grenze verbunden war.
Versuchen wir nun eine Erklärung zu finden für die Jahre
ab 1750, bei denen die Ursache des erhöhten Wertes nicht
offensichtlich ist. Für 1764 kann davon ausgegangen werden,
dass ebenfalls die Pocken vorkamen. Einerseits aufgrund des ähnlichen
Kurvenverlaufs von Bern und Genf (wo eine Epidemie registriert
wurde) und andererseits weil Reust für dieses Jahr eine erhöhte
Sterblichkeit der Ein- bis Vierjährigen in der Stadt Bern
festgestellt hat, ohne jedoch eine Ursache für dieses Phänomen
finden zu können(477). Der leichte Ausschlag von 1768 ist
zumindest in Bern zu einem Teil auf die Rote Ruhr(478) und zum
anderen Teil auf die Pocken(479) zurückzuführen. Bis
1804 fanden sich Erklärungen für alle Schwankungen in
der Berner Kurve. 1804 schlägt die Kurve sowohl in Genf wie
auch in Bern aus, dabei wurde in Genf (und in Neuenburg(480))
kein einziger Pockentoter verzeichnet. 1804 war aber das Jahr,
in welchem der Sanitätsrat in Bern aufgrund einer Pockenepidemie
die allgemeine Einführung der Schutzimpfung beschloss. Da
keinerlei quantitative Angaben über das Ausmass dieser Epidemie
vorliegen und in Ermangelung an anderen Erklärungen lässt
sich der Ausschlag der Berner Kurve auf die damals herrschende
Epidemie zurückführen. Die Pocken kamen im Kanton Bern
von 1810 bis 1812 vielerorts vor(481), der Kurvenverlauf könnte
also auf eine Epidemie hinweisen, die im Herbst 1810 begann, ihren
Höhepunkt 1811 erreichte und 1812 im Abklingen begriffen
war.
Was sowohl bei Genf wie auch bei Bern erstaunlich ist, ist die Tatsache, dass die Pocken - wenn überhaupt (mit Ausnahme von 1800 in Genf) - nur "leichte Krisen" (nach Dupâquier) zu verursachen in der Lage waren, es also zu keinem "Grossen Sterben" in kurzer Zeit kam, ganz im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten wie beispielsweise der Pest und der Ruhr.
Der Grund scheint simpel zu sein: An der Pest und der Ruhr war durch den Umstand, dass allenfalls eine nur wenige Monate dauernde Immunität erworben wurde (vgl. Kap. 2.3.5.), das Potential von anfälligen Menschen, welche immer wieder an diesen Krankheiten leiden konnten, viel grösser. Bei den Pocken konnte jedoch immer nur derjenige Teil der Bevölkerung befallen werden, der noch keine (meist lebenslängliche!) Immunität aufzuweisen hatte. Im 18. Jahrhundert handelte es sich dabei vorzugsweise um Kinder.
Von der Pest und auch der Ruhr(482) war also generell die gesamte
Bevölkerung gefährdet, von den Pocken jedoch nur derjenige
viel kleinere Teil, der noch über keinen Immunitätsschutz
gegen diese Krankheit verfügte. Damit fehlte auch die Basis
für ein "Grosses Sterben".
Einmal mehr ist zu konstatieren, dass die Pocken in Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar vorkamen und stetig Opfer unter der jüngsten Bevölkerungsgruppe forderten. Dramatische Ausmasse nahmen sie im Gegensatz zu anderen Gebieten wie etwa London(483), Berlin oder auch Wien (hier vor allem im letzten Dezenium des 18. Jahrhunderts) jedoch nicht an(484), und für diesen Zeitraum können die Pocken folglich nicht als "häufigste Killer"(485) bezeichnet werden. Wieso jedoch gerade der Kanton Bern im 18. Jahrhundert augenscheinlich weniger unter den Pocken zu leiden hatte als der Vergleichsraum Genf, ist schwer zu erklären. Hatte es damit zu tun, dass die Bevölkerungsdichte geringer war, was ein endemisches Festkrallen der Pocken im Kanton verunmöglichte? Wurde das Gebiet des Kantons Bern weniger stark bereist als dasjenige von Genf (einerseits wegen des restrikitveren Ancien Régimes in Bern, dass sich abzuschotten versuchte und andererseits der Rolle von Genf als weltoffener Stadt dieser Zeit), womit auch die Möglichkeit kleiner war, diese Krankheit einzuschleppen und zu verbreiten? Wurden in Genf mehr Inokulationen durchgeführt, was der Verbreitung der Pocken Vorschub leistete? Wurden die prophylaktischen Massnahmen zur Abwehr der Pest in Bern bis zum Ende des Ancien Régimes 1798 nach wie vor angewandt, was wiederum die Folge gehabt hätte, dass sowohl die Einschleppung wie auch die Verschleppung, die beiden Hauptkomponenten des Verbreitungsmodus, unterbunden wurden? Eine monokausale Erklärung kann zur Beleuchtung dieses Phänomens nicht genügen, ein Gemisch dieser unterschiedlichen Hypothesen wird wohl den Tatsachen am ehesten gerecht.
In diesem Kapitel soll eine Chronologie der Pocken für den
Kanton Bern im 19. Jahrhundert erstellt werden. Wiedergegeben
werden stets die genauesten vorliegenden Angaben über das
Auftreten der Pocken im betreffenden Jahr. Dabei kann es vorkommen,
dass für einzelne Jahre überhaupt nichts bekannt geworden
ist und für andere lediglich narrative Berichte vorliegen.
Präzisere Angaben über das Auftreten der Pocken liegen
ab 1865 vor.
1802: Im Material der Datenedition BERNHIST werden erstmals seit 1799 wieder Pockentote erwähnt, und zwar in den Kirchgemeinden Bargen, Kallnach und Wohlen.
1803: Der Staatsverwaltungsbericht für die Jahre 1814 bis 1830 berichtet von einer "Blatter-Epidemie" mit einigen Todesfällen. Das Urmaterial zu dieser Angabe existiert aber nicht mehr. Die Datenedition BERNHIST berichtet von Fällen in Kallnach ("Kinderblattern bis Mai"), Lengnau ("Kinderblattern") und Lauenen ("von 150 Toten 60 Kinder an Kindsblattern").
1804: "Die in mehrern Gegenden unsers Cantons besonders aber im Oberland dieses Frühjahr hindurch geherrschte, theils noch herrschende Poken Epidemie hat bey uns den Wunsch erregt, über diesen Gegenstand nähere und bestimmtere Berichte einzuziehen [...]"(486) Die Epidemie dieses Jahres war zugleich der Auslöser für die Organisation des Impfwesens durch den Staat. Ueber das Ausmass und den Umfang dieses Ausbruchs ist hingegen nichts bekannt, mit Ausnahme der folgenden Angaben der Datenedition BERNHIST: Pocken in Vechigen, Kinderblattern in Lauterbrunnen, in Leissigen starben "viele Kinder", in Gadmen und Guttannen die Blattern, in Meiringen von 207 Toten 149 Kinder an den Blattern von Mai bis Juli, in Signau von 62 Toten 12 an Kindsblattern, in Därstetten starben die meisten der verstorbenen Kinder an den natürlichen Blattern und die Blattern in Eriswil.
1805 bis 1809: Von diesen Jahren ist bezüglich der Pocken im Staatsarchiv des Kantons Bern kein Material erhalten geblieben oder überliefert worden. Die Datenedition BERNHIST berichtet von folgenden Fällen: 1805: Fieber und Blattern in Bolligen, 79 Menschen an Blattern in Frutigen, die Pocken in Reichenbach und in Schwarzenegg. 1807: in Utzenstorf ein Pockentoter.
1810: Im Impfbericht wird erwähnt, dass "die an vielen Orten herrschenden Pocken die Impflinge bedeutend vermindert haben." (487) Genauere Angaben waren jedoch nicht zu finden. Die Datenedition BERNHIST berichtet lediglich von einem Fall in Bümpliz.
1811: Für dieses Jahr liegt kein Material vor, dem Bericht von 1812 ist aber zu entnehmen, dass die Pocken ziemlich stark vorkamen. Die Datenedition BERNHIST weiss folgendes: 14 Tote an Kindsblattern in Bolligen, 13 Tote in Bümpliz, in Biel herrschten zu Beginn des Jahres die Pocken, die Pocken in Täuffelen und in Amsoldingen.
1812: "Im Jahre 1812 herrschte während mehreren Monaten so wie in den beyden vorangegangenen Jahren die wahren Poken in den meisten Gegenden des Cantons." (488) Wiederum der Hinweis auf eine Epidemie, abermals ohne konkrete Angaben über deren Grösse. Die Datenedition BERNHIST schweigt für dieses Jahr.
1813: "Weniger als in den 3. vorhergegangenen Jahren kamen im Jahr 1813 die wahren Poken im Canton Bern vor, und zwar herrschten sie nur im Anfang deselben, soviel mir bekannt." (489) Hier wird das Problem verdeutlicht, dass nicht einmal die zuständigen Instanzen (der Oberimpfarzt des Kantons und damit auch der Sanitätsrat) Bescheid wussten über die Verbreitung und das Wirken der Pocken. Sicher kam es in diesem Jahr aber zu verschiedenen Fällen, BERNHIST erwähnt lediglich, dass in Trachselwald viele Tote an den Kindsblattern starben.
1814 und 1815: "Die wahren Poken, die während 3. Jahren beständig in dem einen oder anderen Theil des Cantons sich gezeigt hatten, waren im Jahr 1813 gänzlich verschwunden, und im Jahr 1814 wurden deren nirgends, als während sehr kurzer Zeit in [unleserlich] bemerkt, woselbst 5. bis 6. Kinder dieselben bekamen, ohne dass sich die Krankheit weiter verbreitete. Im Sommer 1815 herrschten sie hingegen sehr stark und bösartig." (490) In diesem Bericht wird in Abrede gestellt, dass 1813 Pockenfälle vorgekommen seien. Ausmass und Verbreitung des Ausbruchs vom Sommer 1815 sind nicht bekannt.
1816: " [...] dass von 22. Oberämmtern des alten Cantons nur 8. von den wahren Poken frey blieben." (491) 1816 waren die Pocken weitherum verbreitet, wie heftig sie jedoch gewütet haben, ist nicht in Erfahrung zu bringen.
1817: "Die wahren Poken zeigten sich in vielen Theilen des Cantons, und herrschten an manchen Orten stark und ziemlich bösartig." (492) Während der Hungerkrise von 1816/17 kam zusätzlich zur allgemeinen Not noch der Ausbruch der Pocken hinzu. Dessen Ausmass ist aber unbekannt.
1818: "[...] über den ganzen Canton hin und wieder verbreiteten, meistens aber gelind und in geringer Frequenz herrschenden wahren Poken." (493) Die Heftigkeit des Ausbruchs von 1817 ist nun wieder am Abnehmen begriffen. Zahlen sind jedoch keine überliefert.
1819: In diesem Jahr wurde ein neuer Oberimpfarzt eingesetzt, der sich in seinem ersten Bericht vor allem über die schlechte Organisation des Impfwesens und die mangelhafte Qualität des verwendeten Impfstoffes (was eine Vielzahl misslungener Impfungen zur Folge hatte) ausliess. Ueber das Vorkommen der Pocken ist hingegen nichts zu erfahren.
1820: "Die wahren Poken herrschten laut eingegangenen Berichten, im Frühjahr 1820 in den Gegenden Herzogenbuchsee, Bleyenbach und Schwarzenburg. [...] In den Aemtern Freybergen und Pruntrut [...] herrschten ebenfalls die Poken." (494) Ein Jahr mit einigen Pockenfällen, dass jedoch nicht überdurchschnittlich stark heimgesucht worden ist.
1821 und 1822: Es liegen keine Angaben vor.
1823: "Da sich im Verlauf des Jahres 1823 für die Geschichte der Vaccine im Kanton Bern nichts besonders merkwürdiges ereignet hatte, dass einiger Aufmerksamkeit würdig wäre." (495) Seit 1817 scheint der Kanton von den Pocken verschont geblieben zu sein.
1824: Erwähnt wird im Bericht des Impfarztes lediglich eine Scharlachepidemie. Ueber das Vorkommen von Pockenfällen wird keine Aussage gemacht, anzunehmen ist aber, dass es keine oder nur wenige gab.
1825: In diesem Jahr beginnt in Europa und in einigen Kantonen der Schweiz (v.a. Zürich, Thurgau, St. Gallen und Appenzell) eine grosse Pockenpandemie. Bern ist davon aber noch nicht betroffen: "Merkwürdig für uns war allerdings, dass im Jahr 1825 im Canton Bern sich nur ein einziger Pokenkranker zeigte, der als reisender Handwerksbursche aus den kleinen Cantonen hieher kam." (496)
1826: "Im Jahr 1826 hingegen haben sich die Poken in mehrern benachbarten Cantonen bedeutend gezeigt, nehmlich in Freyburg, Solothurn, Luzern, Schwyz und Zug. [...] Von verschiedenen Seiten des Cantons Bern vernahm man ebenfalls das Ergriffenseyn mehrerer Personen von den natürlichen Poken, und mehrmals zeigten sich dieselben in denjenigen Grenz Orten des Cantons die mit einigen [unleserlich] Cantonen im öftern Verkehr stehen. [...] Aber niemals hat sich die Krankheit bis jetzt besonders ausgebreitet." (497)
1827: Die Pocken haben 1827 "bis über die Hälfte des Jahres geherrscht." (498) Aus späteren Aufstellungen ist zu erfahren, dass in den beiden Jahren 1826 und 1827 zusammen ungefähr 260 Personen erkrankten, wieviele daran starben, ist unbekannt.
1828: Die Situation scheint sich wieder beruhigt zu haben und es traten nur gegen Ende des Jahres "einige wenige Fälle" auf.
1829: Es erkrankten insgesamt 116 Menschen, wovon 19 verstarben(499). 51 davon in Saanen, 17 in Nidau, 30 in Obersimmental, 1 in Seftigen, 15 in Bern und 1 in Interlaken. Wo die Todesfälle registriert wurden, ist ebenso unbekannt wie das Alter der Erkrankten und Verstorbenen.
1830: "Die Pokenepidemie die seit 1826 in unserem Canton sich alljährlich in verschiedenen Theilen deselben gezeigt hat, ist noch nicht verschwunden und zeigte sich noch immer an einzelnen Orten und bey einzelnen Personen doch ohne einige bedeutende Verbreitung." (500) Dieses Jahr war erstmals seit 1825 nicht mehr so stark von den Pocken betroffen.
1831: "Im November und Dezember 1831 aber brach diese Krankheit in Bern, sowie in den Amtsbezirken Seftigen, Thun und Nieder-Simmenthal mit Heftigkeit aus, und verbreitete sich bald über den ganzen Canton." (501) Oberimpfarzt Flügel schreibt jedoch, dass die Epidemie im Herbst im Amt Saanen ihren Anfang hatte und sich von dort aus über den ganzen Kanton verbreitete(502). Nach Angaben des Staatsverwaltungsberichtes für die Jahre 1831 bis 1833 wurden 1831 im eingerichteten Pockenspital in der Berner Matte 163 Kranke behandelt, von denen 10 starben. Flügel erwähnt für den gleichen Zeitraum 184 Kranke und 12 Tote. Wieviele sonst im Kanton erkrankten, ist weder Flügel noch dem Staatsverwaltungsbericht bekannt.
1832: Die Epidemie, welche 1831 begonnen hatte, dauerte nach Angabe des Staatsverwaltungsberichtes noch bis in den August dieses Jahres fort. 1832 wurden 1345 Pockenfälle und 97 Todesfälle bekannt. Flügel hingegen schreibt: "Ueber die Zahl der von den Pocken ergriffenen, war es unmöglich richtige Nachrichten zu erhalten, ohngeachtet ergangener Aufforderungen an die Aerzte über die Zahl, des Verlaufs und der Verschiedenheit der ihnen vorkommenden Pockenfälle einige Berichte zu sammeln [...] Nach den erhaltenen Berichten belief sich die Zahl der vom Oktober 1831 bis Ends Jahr 1832 ergriffenen Pockenkranken auf beinahe 1800 Personen, welche Zahl gewiss doppelt angenommen werden kann, wegen der Saumseligkeit vieler Aerzte die ihnen bekannt gewordenen Pockenfälle nicht mitgetheilt zu haben, und wegen der vielen Pockenkranken, die keinem Arzt bekannt worden sind; [...] von der Gesamtsumme der bekannten Pockenkranken starben 174." (503) Die Angabe über die an Pocken verstorbenen scheint in der Grössenordnung zu stimmen. Ob die Annahme Flügels, dass die "Zahl gewiss doppelt angenommen werden kann", richtig ist, sei dahingestellt. Sicher entgingen viele Kranke einer Registrierung, jedoch kaum 100% bei immerhin 1800 Fällen. Vermutlich ist diese Bemerkung Flügels vor allem auf dem Hintergrund seiner Verbitterung über die Nachlässigkeit der Aerzte entstanden.
Ueber die Altersverteilung der Erkrankten ist von Flügel zu erfahren, dass "Subjekte vom Alter von 5 bis 40 Jahren, jedoch die Mehrzahl zwischen 18 bis 30 Jahren"(504) ergriffen wurden, was einer deutlichen Verschiebung des Alters der Erkrankten nach oben gegenüber dem 18. Jahrhundert entspricht.
Verbreitet wurden die Pocken meist durch Reisende. So wurde in Saanen der erste Fall ausgelöst "durch einen von Genf heimkehrenden Soldaten, wo damals die Pocken herrschten, von wo aus sich die Krankheit zuerst im ganzen Aemte ausbreitete; [...] von da aus nahm sie ihre Richtung über das ganze Siemmenthal hinab in die Aemter Seftigen und Thun; [...] von da aus verbreitete sie sich im Anfang des Jahrs 1832 in die Aemter Konolfingen und Bern, und im Frühjahr nach Interlaken und Oberhasle. [...] Aus den eingelangten Berichten ergab sich nun, dass kein Amt im Canton von der Pockenseuche verschont geblieben, und dass die Verbreitung sowohl durch die Verbindungen mit den angrenzenden Cantonen und Staaten, als durch persönliche Mittheilungen aus dem Innern des Cantons geschah; so steckten z.B. mehrere aus der Garnison von Bern heimkehrende Soldaten einzelne Mitglieder ihrer Familien an, weil damals Pockenkranke im Militärlazareth sich vorgefunden hatten, was sich in den Aemtern vom Emmenthal und dem Leberberg bewiesen hat." (505)
Bei der Epidemie der Jahre 1831 und 1832 handelt es sich um die zweitgrösste des 19. Jahrhunderts.
1833, 1834 und 1835: Es scheint kein Pockenfall vorgekommen zu sein.
1836 und 1837: "Die Pockenseuche zeigte sich im Jahre 1836 in den Amtsbezirken Laupen und Ober-Simmental, im Jahre 1837 auch in den Amtsbezirken Bern, Biel und Aarwangen. Die daran verstorbenen Personen waren mit wenigen Ausnahmen nicht vacciniert." Nach einigen ruhigen Jahren wieder ein verstärktes Auftreten der Pocken, ohne jedoch (wie aufgrund des undramatischen Tones im Staatsverwaltungsbericht anzunehmen ist) schwere epidemische Ausmasse anzunehmen. Dennoch der schwerste Ausbruch seit 1831/32. Gravierender wirkte sich 1836 jedoch die Ruhr aus.
1838: "Von der Pockenepidemie blieben die einzelnen Landestheile verschont: nur einzelne Fälle zeigten sich in den Amtsbezirken Thun und Wangen."
1839: "Der Canton Bern blieb im Jahre 1839 von Pockenepidemien ziemlich verschont; bloss im Oberamt Oberhasle kamen, wahrscheinlich aus dem Wallis eingeschleppt, in letzter Zeit Pockenfälle auf ungeimpften Kindern vor; einige Fälle endeten mit dem Tode." Ein Jahr mit unbedeutendem Pockenvorkommen.
1840: "La petite vérole cependant s'est rarement déclarée; elle n'a sévi que dans les districts de Frutigen, de Berne, de Bienne et de Courtelary, où elle a été apportée des cantons du Valais et de Neuchâtel." Wiederum also nur wenige Fälle und ein nicht gravierendes Vorkommen von Pocken.
1841: " [...] elle [die Pocken] ne s'est déclarée chez nous, sous ses véritables formes et sous celles de varioloides, que dans des cas isolés, particulièrment dans les districts d'Aarberg, de Berne, Bienne, Berthoud, Courtelary, Frutigen, Oberhasle, Haut-Simmenthal et Wangen." Die Verhältnisse sind mit denjenigen von 1840 vergleichbar.
1842: "Von den Menschenblattern blieb dieses Jahr die Bevölkerung des Kantons, einzelne wenige Fälle ausgenommen, gänzlich verschont."
1843: "Im Frühjahr 1843 erschienen plötzlich in der Gemeinde Siselen, Amts Erlach, die ächten Blattern, durch einen französischen Vagabunden, der damit behaftet war, eingeschleppt. Von hier aus verbreiteten sie sich schnell, jedoch zerstreut und vereinzelt über die Amtsbezirke Aarberg, Erlach, Nidau, Biel, Büren, Fraubrunnen, Wangen, Aarwangen, Burgdorf und Trachselwald, verschwanden indess in diesen Aemtern schnell und verursachten keine grosse Mortalität. In der zweiten Hälfte des Jahres erschienen sie in der Nähe Bern's, zu Worblaufen, in der Papiermühle, auf dem Wylerfeld, dem Altenberg und kamen endlich in die Stadt, so dass am Ende des Jahres schon bei 20 Häuser mit Blatternkranken bezeichnet wurden. [...] Da die Krankheit so rasche Fortschritte machte, und an mehrern Orten fast gleichzeitig auftrat, so war eine vollständige Abschliessung des einzelnen Falles nicht möglich." 1843 kam es zu einem verstärkten Auftreten von Pockenfällen. Aufgrund der relativen Gelassenheit der obrigkeitlichen Anordnungen und Massnahmen kann eine massive epidemische Ausbreitung im Kanton jedoch ausgeschlossen werden.
1844: "Die im Jahre 1843 aufgetretene Pocken-Epidemie erreichte gegen Ende deselben Jahres ihre Höhe und fing erst in der Mitte des Jahres 1844 an nachzulassen. Die Gegenden, in welchen sie vorzüglich rasch um sich griff, waren: Bern, Aarberg, Nidau, Delsberg, Fraubrunnen, Aarwangen und Konolfingen." Obwohl vermutlich nicht überaus schwerwiegend, handelt es sich beim Ausbruch von 1843/44 um den schwersten seit demjenigen von 1836/37, ohne dabei gravierende demographische Konsequenzen zu zeitigen.
1845 bis 1848: In diesen Jahren kommt es ständig zu verschiedenen Ausbrüchen der Pocken. So sollen 1845 207 Personen erkrankt und 11 gestorben sein. 1846 fehlen Angaben über die Zahl der betroffenen Menschen, die Epidemie setzte sich jedoch noch fort. 1847 sind 60 Menschen erkrankt, ob jemand (und in diesem Fall wieviele) gestorben ist, ist nicht bekannt. 1848 war der epidemische Ausbruch vorüber, dennoch gab es einzelne Fälle zu verzeichnen.
1849: "Epidemische Krankheiten unter den Menschen kamen in diesem Jahre vor in mehreren Gegenden des Kantons, so die Menschenblattern in einzelnen Gemeinden der Amtsbezirke Delsberg, Münster und Aarwangen, von wo aus einzelne Fälle in andere Amtsbezirke verschleppt wurden." Gegenüber dem Vorjahr kam es vermutlich zu einem Ansteigen von Erkrankungen. Zu erfahren ist aus einer von 99 Aerzten eingesandten Uebersicht aber nur, dass in der Zeit vom 15. September bis zum 15. November 1849 nebst 3543 Fällen "akuter innerer Krankheiten" 26 Erkrankungen von Pocken und Varioloiden (eine ungefährliche Form eines Hautausschlages, der ein ähnliches Erscheinungsbild wie die Pocken aufweist) auftraten.
1850: "Epidemische Krankheiten unter den Menschen kamen in mehreren Gegenden des Kantons vor: so die Menschenblattern mit ziemlicher Intensität in einzelnen Ortschaften des Amtsbezirkes und in der Stadt Bern; ferner in den Aemtern Laupen, Nidau und Biel."
1851: "Blattern. Dieselben kamen, jedoch nur vereinzelt, in einzelnen Gemeinden der Amtsbezirke Lauffen, Courtelary, Laupen, Wangen, Thun, Münster, Saanen, Pruntrut, Büren, Aarwangen, Nidau, Signau vor. Einige Personen sind daran gestorben."
1852: In Erfahrung zu bringen ist folgendes: "Die Direktion hatte sich in Handhabung der medizinischen Polizei hauptsächlich zu befassen mit ansteckenden Krankheiten, deren im Jahre 1852 zwar manche, doch ohne allgemeinen Charakter, sich zeigten, nämlich bei Menschen: Blattern, Scharlachfieber, Ruhr, Nervenfieber."
1853: In diesem Jahr wird abermals auf ansteckende Krankheiten hingewiesen, jedoch treten "bei Menschen" nur noch "Blattern, Raude" auf.
1854: kommen bei Menschen wiederum verschiedene ansteckende Krankheiten vor, "doch nur in einzelnen Gemeinden und ohne allgemeinen Charakter." Dabei handelt es sich um "die Blattern, das Nervenfieber und den Typhus."
1855: "Bei Menschen zeigten sich zwar die Blattern und das Nervenfieber in mehreren Amtsbezirken nur vereinzelt und ohne epidemischen Charakter, aber anders verhielt es sich mit der Ruhrkrankheit, welche namentlich die Hauptstadt des Kantons auf eine empfindliche Weise heimsuchte, und sich auch in andern Landesgegenden, doch weniger bösartig, zeigte."
1856: "In einzelnen Fällen zeigten sich die Blattern und zwar in den Amtsbezirken Bern, Aarberg, Trachselwald, Seftigen, Fraubrunnen, Thun und Nidau."
1857: "In vereinzelten Fällen zeigte sich im Amtsbezirk Burgdorf die Ruhr, ferner zeigten sich ebenso die Blattern in den Aemtern Fraubrunnen, Schwarzenburg und Burgdorf."
1858: "Auch im Jahre 1858 kamen epidemische Krankheiten unter Menschen nur in vereinzelten Fällen vor. So die Blattern in Schüpfen, Fraubrunnen, Aarberg und Büren."
1859: "Unter den, den Menschen befallenden Krankheiten sind es hauptsächlich und waren es in diesem Jahr einzig die Blattern, welche die Thätigkeit der Direktion in Anspruch nahmen. Auch diese zeigten sich dieses Jahr bloss in sporadischen Fällen, oder kleinen Lokalepidemien, bei denen die durch das Impfgesetz vorgeschriebenen Schutzmassregeln vollkommen genügten: so im St. Immerthal, in Münchenwyler und in Bern."
1860: "Die Blattern zeigten sich bloss in der ersten Hälfte des Jahres, und zwar meist nur in vereinzelten Fällen (St. Immer, Koppigen, Bern [auch im Militärspital]); lokale, doch nicht bedeutende Epidemien dieser Krankheit zeigten sich in Corgemont (Januar) und Pieterlen (April)."
1861: "Von Blattern scheint kein Fall vorgekommen zu sein."
1862: "Von Blattern gelangte das ganze Jahr hindurch kein Fall zu amtlicher Kenntniss."
1863: "Von Blattern kam ein Fall im Amtsbezirk Freibergen vor."
1864: "Endlich sind zu erwähnen die Blattern, welche in einer seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Ausbreitung auftraten und der Direktion viel zu schaffen machten." Dabei traten insgesamt 163 Fälle auf, wovon 15 tödlich verliefen. Ungefähr 70 entfallen auf den Jura, 33 auf den Amtsbezirk Bern, je ein Dutzend auf die Bezirke Burgdorf und Wangen und die übrigen Fälle verteilen sich auf die Aemter Aarberg, Erlach, Signau, Thun und Trachselwald. Das Alter der Betroffenen wird nicht erwähnt. Dabei handelt es sich um eine Epidemie, welche erst 1865 zum vollen Ausbruch gelangte.
1865: "Mehr als alle diese Krankheiten machten aber die Blattern der Sanitätsbehörde zu schaffen. Namentlich waren es die Amtsbezirke Bern und Courtelary, in welchen die Epidemie mit Eintritt des neuen Jahres bereits in voller Blüthe stand." Es wurden total 366 Erkrankungs- und 30 Todesfälle bekannt. 243 der Fälle standen bereits im Erwachsenenalter, 104 waren Kinder unter 14 Jahren und bei 7 Fällen handelte es sich um Neugeborene, die allesamt starben. Als Ursache für die schon im Jahr zuvor begonnene Epidemie wurden gänzlich Einschleppungen verantwortlich gemacht: auch 1865 waren es, "was die Sache verlängerte, [...] die stets neuen Einschleppungen aus Nachbarkantonen, namentlich der französischen Schweiz, in welchen in sanitätspolizeilicher Hinsicht wenig Ordnung zu herrschen scheint. So war die Lokalepidemie in Schwarzenmatt (Obersimmenthal) die Folge der zu frühen Entlassung eines blatternkranken Soldaten des Bataillons 16 aus dem Spitale in Genf. Die 2 Fälle im Dezember zu Bern betrafen 2 Kinder einer Seiltänzerfamilie aus Frankreich, welche 2 Tage vor ihrer Ankunft in Bern in Chaux-de-Fonds Vorstellungen gegeben hatte. Die 2 Fälle in Kallnach wurden wahrscheinlich durch diese Leute auf ihrem Durchzuge durch den Amtsbezirk Aarberg angesteckt." Von den 366 Fällen entfielen allein 183 (und 18 Todesfälle) auf St. Imier. Weiter war auch die Stadt Bern mit total 73 Erkrankungen (44 im Blatternspital, 21 im Zuchthaus und 8 in der "übrigen Stadt") stark betroffen. 29 Kranke wurden in Villeret gezählt. Die restlichen noch betroffenen Ortschaften hatten alle nicht mehr als je 8 Fälle zu verzeichnen. Eindeutig am stärksten betroffen war das Amt Courtelary, entfielen doch total 218 Fälle auf diesen Bezirk.
1866: "Die Blattern zeigten sich auch dieses Jahr an verschiedenen Orten, wenn schon in weit geringerer Zahl von Fällen als in den beiden letzten Jahren." 1866 kam es aufgrund der Pocken zu 38 Erkrankungen und 3 Todesfällen. Sämtliche Ausbrüche lassen sich auf Einschleppungen zurückführen, so wurde "im Februar [...] daselbst ein Fall aus dem Kanton Solothurn eingeschleppt, welcher zu Differenzen mit der Gemeindsbehörde führte. Im Januar und Februar brach infolge Einschleppung aus dem Aargau zu Grellingen und Zwingen eine kleine Blatternepidemie von 8 Fällen aus. [...] Ebenso wurde zu Einigen (Nieder-Simmenthal) ein Fall beobachtet, dessen Träger im Kanton Luzern angesteckt worden war. [...] Im Juni traten auf dem St. Immerberg in 2 Häusern 9 Fälle auf, wahrscheinlich aus dem Kanton Neuenburg eingeschleppt."
1867: "Von Blattern kamen nur 2 Fälle vor. Der erste betraf einen herumziehenden Metzgerburschen aus dem Kanton Zürich, welcher wahrscheinlich im Kanton Freiburg angesteckt. [...] Am 29. März brachen die Blattern in Thun bei einem frisch aus Endingen zugereisten Spenglergesellen aus."
1868: Werden 14 Pockenkranke und ein Pockentoter gezählt. 10 entfielen auf den Jura, vier (und der Todesfall) auf Gsteig in Saanen.
1869: "Im Ganzen kamen somit, so weit bekannt, im Berichtjahre im Kanton Bern 10 Blatternfälle vor infolge wenigstens fünfmaliger Einschleppung aus dem Kanton Neuenburg, sämmtlich männlichen Geschlechts; [...] kein Fall endete tödtlich."
1870: In diesem Jahr beginnt sich die grösste im 19. Jahrhundert auf Berner Gebiet stattgefundene Pockenepidemie abzuzeichnen. Es erkrankten bei einer unbekannten Zahl von Todesfällen 211 Menschen an den Pocken. "Sie wurden eingeschleppt zum Theil aus dem Kanton Neuenburg, Waadt und Luzern, hauptsächlich aber aus Frankreich und aus dem Kanton Freiburg." Es waren vor allem die "zahlreichen Flüchtlinge aus dem Elsass und Burgund" welche die Pocken vorzugsweise in den Jura brachten. Die Situation schien aber noch nicht überaus dramatisch und "im Allgemeinen gelang die Beschränkung der Krankheit auf die zuerst Ergriffenen überall, wo die rechtzeitige Anzeige nicht versäumt wurde, und die Ortsbehörden und Bewohner sich gegen die Anordnungen der Kreisimpfärzte nicht renitent zeigten."
1871 und 1872: Die grösste Pockenepidemie des Jahrhunderts hatte im Kanton Bern 1871 ca. 2250 Krankheits- und 358 Todesfälle, 1872 ca. 500 Krankheits- und 90 Todesfälle zur Folge(506). Als wichtigste Faktoren für die Grösse dieser Epidemie sind der deutsch-französische Krieg und die dadurch verursachte Internierung der französischen Ostarmee in die Schweiz im Februar 1871 sowie die vor den Kriegshandlungen in die Schweiz flüchtenden Zivilpersonen anzusehen.
1873: kam es nur noch in Biel zu sechs und in Burgdorf zu drei Erkrankungen, die alle auf Einschleppungen zurückgehen. Durch Pocken verursachte Todesfälle gab es anscheinend keine. Was in diesem Jahr mehr zu reden gab als die tatsächliche Verbreitung der Pocken, war ein Artikel in der Londoner "Times": "Ende Juni wurde wieder einmal, offenbar in der Absicht, den Fremdenzug vom Oberland weg in andere Bahnen zu lenken, in der 'Times' das Gerücht verbreitet, die Blattern herrschten sehr stark im Oberland. Die Direktion sah sich im Fall, diesem total unwahren Gerüchte energisch engegenzutreten und wurde hierin durch das schweiz. Konsulat in London bestens unterstützt."
1874: Es kam zu fünf Ausbrüchen und zwei Todesfällen, davon ein Neugeborenes.
1875: "Von den Blattern blieb unser Kanton im Berichtjahr vollständig verschont."
1876: "Die Blattern sind im Jahr 1876 im Kanton Bern nicht aufgetreten."
1877: Es kam zu 24 Fällen, wovon vier einen tödlichen Ausgang hatten. Diese liessen sich aber alle auf Ein- und Verschleppungen zurückführen und waren vor allem auf das Steigerhubelspital in Bern (7 Kranke /1 Toter) und die Irrenanstalt St. Urban (17 Kranke /3 Tote) beschränkt, wo vom Steigerhubelspital her "eine geisteskranke alte Frau" transportiert wurde.
1878: Ende 1878 gab es eine Einschleppung durch eine aus Frankreich über Genf heimkehrende Person, die insgesamt sechs Fälle zur Folge hatte.
1879: Kam es bedingt durch verschiedene Einschleppungen zu einer grösseren epidemischen Ausbreitung. Im Kanton Bern erkrankten total 111 Personen an den Pocken, wovon 18 daran verstarben. Allein 57 der Fälle entfielen auf die Stadt Bern und 23 auf die Waldau. In Reconvilier kam es ebenfalls zu einer kleineren Lokalepidemie, der Rest verteilte sich in Einzelfällen vor allem auf die Umgegend der Stadt Bern. Fünf Fälle waren unter einem Jahr alt, drei 1 bis 2 Jahre, acht 2 bis 5 Jahre, sechs 5 bis 10 Jahre, 13 10 bis 20 Jahre, 22 20 bis 30 Jahre, 17 30 bis 40 Jahre, 21 40 bis 50 Jahre, acht 50 bis 60 Jahre, sechs 60 bis 70 Jahre und zwei 70 bis 80 Jahre.
1880: "Die Blattern traten vereinzelt während des ganzen Jahres auf. Unter 22 konstatirten Fällen befinden sich nicht weniger als 9 frische Einschleppungen aus Nachbarkantonen resp. aus Frankreich. Es gelang überall, durch Anwendung strenger Isolirungs- und anderer Vorsichtsmassregeln, die beginnende Epidemie bald zu ersticken."
1881: "Während des Berichtsjahres 1881 traten die Blattern im Kanton Bern epidemisch und mit einer Intensität auf, welche seit der grossen Epidemie der Jahre 1871 und 1872 noch nie gesehen war. [...] Wir können hier erwähnen, dass 293 Blatternfälle konstatirt worden sind, wovon 54 tödtlich verliefen." (507) Am stärksten waren die Aemter Bern, Biel, Signau und Courtelary betroffen gewesen.
1882: "Die Blatternepidemie des Jahres 1881 hat mit dem Ende des Jahres ihren Abschluss gefunden; vereinzelte Fälle zeigten sich jedoch noch während der ersten 8 Monate des Jahres 1882. [...] Im Ganzen gab es 43 Fälle, eine zu geringe Zahl, um für sich eine statistische Bearbeitung zu motivieren." Zudem gab es noch vier Todesfälle(508).
1883: Nach Angabe des Staatsverwaltungsberichtes erkrankten insgesamt 44 Personen, wovon sechs starben(509).
1884: Kommt es zu einem verstärkten Auftreten der Pocken. Im Staatsverwaltungsbericht fehlen jedoch Zahlen, aber "wie schon so oft wurden die ersten Fälle von der französischen Grenze her eingeführt." In Anbetracht der 19 Todesfälle(510) dieses Jahres (und einer aufgrund der Werte der vorangehenden Jahre angenommenen Letalität von 14%) kann darauf geschlossen werden, dass ungefähr 140 Menschen erkrankt sein müssen.
1885: "Die Blatternepidemie, welche im Sommer 1884 in Lengnau begonnen und sich über mehrere weitere Ortschaften ausgebreitet hatte, verbreitete sich im Berichtsjahr noch mehr und auch in der Stadt Bern kamen gegen 100 Fälle zur Beobachtung. Eine bedeutende Ausdehnung konnte die Krankheit jedoch nicht gewinnen, was einerseits der strengen Isolirung und Desinfektion, andererseits aber entschieden der Impfung zugeschrieben werden muss." Angaben über die aufgetretenen Fälle liegen nicht vor, es wird lediglich eine Zusammenstellung der von den Pocken betroffenen Ortschaften publiziert, die nach den Aemtern und nicht nach der Zahl der Fälle geordnet ist. Bei 33 Pockentodesfällen(511) können bei einer angenommenen Letalität von wiederum 14% ungefähr 240 Kranke vermutet werden.
1886: "Vereinzelte Fälle von Blattern kamen zur Anzeige aus den Amtsbezirken: Bern, Biel, Courtelary, Delsberg, Freibergen, Pruntrut, Signau. In sämmtlichen Fällen gelang es, der Weiterverbreitung sofort Schranken zu setzen. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass die Fälle meist von Frankreich eingeschleppt werden, während aus dem deutschen Reich, wo die Impfung und Isolirung strenge gehandhabt wird, dies höchst selten vorkommt." Dabei kam es im ganzen zu fünf Pockentodesfällen(512), was auf ungefähr 40 Krankheitsfälle schliessen lässt.
1887: "Vereinzelte Fälle von Blattern kamen zur Anzeige aus den Amtsbezirken: Courtelary, Pruntrut und Fraubrunnen. Stets gelang es, durch sofortige Isolirung und Vaccination resp. Revaccination der Hausbewohner den Ausbruch einer grösseren Epidemie zu verhüten." Zu Todesfällen kam es in diesem Jahr nicht.
1888: "Vereinzelte Fälle von Blattern kamen zur Anzeige aus den Amtsbezirken Burgdorf und Trachselwald. Eine epidemische Ausbreitung fand nicht statt." Ebenfalls gab es keine durch Pocken verursachten Todesfälle zu beklagen.
1889: "Im Berichtsjahr kam ein einziger Fall von Blattern zur Anzeige. Derselbe betraf einen italienischen Arbeiter der Drahtseilbahn Merligen-Beatenberg."
1890: In diesem Jahr begann eine Epidemie, die sich bis 1892 fortsetzte. Es erkrankten 198 Personen und 20 starben.
1891: kam es zu 184 Erkrankungen und 17 Todesfällen(513), vorzugsweise im Oberaargau und im Seeland.
1892: 206 Erkrankungen und 18 Todesfälle(514). Hauptsächlich treten die Fälle im Jura und am Bielersee auf.
1893: Es kam nur noch zu 13 Erkrankungen und einem Todesfall in den Gemeinden Bern, Biel, Courgenay, Ins, Meiringen und Pruntrut.
1894: "Im Jahre 1894 wurde unser Kanton von der grössten Blatternepidemie seit dem Kriegsjahre 1870/71 heimgesucht. Sie begann schon Mitte Januar und erlosch erst mit Ende Dezember." Insgesamt erkrankten 426 Personen an den Pocken und 20 sind daran gestorben(515). 140 Fälle entfielen auf Bern, 49 auf Biel, 21 auf Vechigen, 20 auf Madretsch, 19 auf Zollikofen, 15 auf Heimiswyl, 13 auf Wengi und 11 auf Eriswyl. Die restlichen betroffenen Gemeinden hatten weniger als 10 Fälle zu registrieren. Von den 426 Kranken waren lediglich 105 10 Jahre oder jünger, der Rest entfiel auf die über Zehnjährigen.
1895: "Im Berichtsjahr trat kein einziger Fall auf, höchst wahrscheinlich desshalb, weil durch die ausgedehnte Epidemie des Vorjahres die Bevölkerung genügend durchseucht oder durchgeimpft war."
1896: "Wie im Jahre 1895, trat auch im Berichtsjahre im Kanton kein einziger Fall auf."
1897: "Aus dem Berichtsjahr haben wir keinen Fall zu verzeichnen."
1898: "Aus nicht zu ermittelnder Quelle wurde im April in Frauenkappelen ein Mann infiziert, der die Krankheit drei ungeimpften Kindern [...] und seiner Frau mitteilte. Die Frau und die 3 Kinder wurden ins Gemeindelazarett Bern gebracht, und dort erkrankte als sechster Fall noch eine zu spät revaccinierte Hülfswärterin. Obwohl die 3 ungeimpften Kinder sehr schwer ergriffen waren, konnten doch alle Erkrankten geheilt entlassen werden."
1899: "Im Dezember 1899 traten plötzlich in Laupen bei der aus Frankreich hergereisten ungeimpften Frau eines Pferdehändlers die Blattern auf. Dank den sofort mit grosser Umsicht von seiten des Arztes und der Gemeindebehörden unsern Anordnungen gemäss getroffenen Vorkehren und der Impfung aller Personen, welche irgend welchen Verkehr mit der Kranken gehabt hatten, gelang es, eine Weiterverbreitung der Krankheit zu verhüten."
1900: "Am 20. Juli trat ein Fall in Lotzwyl auf beim
Kinde eines Lumpensammlers. [...] Im Dezember erkrankten kurz
nacheinander in Bern 4 von Amerika hergereiste Mormonenprediger,
welche auf dem Schiffe, auf welchem sie die Ueberfahrt machten,
mit einem Blatternkranken in Berührung gekommen waren. Sie
wurden alle sofort ins Gemeindelazarett verbracht, und dank der
Revaccinierung fast aller Personen, welche an der von ihnen abgehaltenen
Versammlung teilgenommen hatten, konnte die Weiterverbreitung
der Krankheit verhütet werden."
Die epidemische Verbreitung der Pocken lässt sich während des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern in den folgenden Perioden oder Jahren feststellen:
1803 und 1804 fand die Epidemie statt, die die Regelung des Impfwesens und die Bestellung und Einsetzung von Armen-Impfärzten zur Folge hatte.
1810 bis 1812 kam es wiederum zu einer epidemischen Ausbreitung. Die Ausmasse sind jedoch nicht bekannt und lassen sich nicht rekonstruieren.
Im Sommer 1815 kam es zu einem starken und bösartigen Ausbruch. Ob es sich dabei aber um lediglich lokal begrenzte Epidemien handelte oder ob das ganze Kantonsgebiet betroffen war, ist nicht bekannt. Diese Epidemie zog sich, mit verschiedenen Schwankungen der Intensität und der geographischen Ausdehnung und Verbreitung, bis ins Jahr 1817.
1820 kam es zu einigen Pockenfällen, ohne dass dabei epidemieähnliche Ausmasse erreicht wurden.
1826/27 begann sich die europäische Pandemie im Kanton Bern auszuwirken und es erkrankten insgesamt 260 Personen an den Pocken, wovon eine unbekannte Anzahl daran starb.
1829/30 sind immer noch die Auswirkungen dieser Pandemie zu spüren. 1829 erkrankten 116 Menschen und 19 starben, 1830 ging diese Zahl weiter zurück.
Im November 1831 begann die zweitgrösste Pockenepidemie des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern, welche bis in den August 1832 fortdauerte. Dabei erkrankten ungefähr 1800 Personen an den Pocken, von denen nachweislich 174 daran starben.
1836/37 kommt es wiederum zu einer kleineren Epidemie, von der jedoch keine quantitativen Angaben überliefert sind.
1843 beginnt im Frühjahr ein Ausbruch, der sich durch Verschleppungen in verschiedene Teile des Kantons bis Mitte 1844 hinzieht.
Von 1845 bis 1847 kommt es immer wieder zu verschiedenen Fällen und Ausbrüchen. 1845 sind in dieser Periode am meisten Menschen erkrankt, nämlich 207.
1864/65 kommt es nach einer längeren Phase, in der immer nur sporadische Fälle auftraten, wieder zu einer grösseren Epidemie. 1864 erkrankten 163 Menschen und 15 starben, 1865 kam es zu 366 Erkrankungen und 30 Todesfälle.
1870 bis 1872 fand die grösste Pockenepidemie des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern statt. Zurückführen lässt sie sich zum grössten Teil auf Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges. So kamen in einer ersten Phase viele Flüchtlinge aus Frankreich(516) (wo diese Pockenpandemie ihren Anfang nahm(517) und zudem ein organisiertes Impfwesen inexistent war) in den Kanton Bern und verursachten die ersten Fälle. Richtig angefacht wurde diese Epidemie nach der Internierung der Bourbakiarmee und der Verteilung des bernischen Kontingentes an Bourbaki-Soldaten auf das Gebiet des ganzen Kantons im Februar 1871(518). Total erkrankten etwa 2700 Menschen und ungefähr 500 starben daran.
1879 kam es aufgrund verschiedener Einschleppungen zu einer Epidemie mit 111 Kranken und 18 Toten.
1881 gab es eine grössere Epidemie mit etwa 300 Kranken und 54 Toten.
1884/85 gab es wiederum eine Epidemie mit 19 bzw. 33 Pockentoten. Aufgrund dieser Zahlen und einer angenommenen Letalität von 14% wurden 140 bzw. 240 Kranke errechnet.
1890 begann eine Epidemie, die bis 1892 dauern sollte. 1890 wurden 198 Pockenkranke und 20 Pockentote gezählt, 1891 184 Kranke und 17 Tote, 1892 206 Krankheits- und 18 Todesfälle, insgesamt also 588 Erkrankungen und 55 Todesfälle.
1894 kommt es nach den aufgetretenen Krankheitsfällen zur
drittgrössten Epidemie des 19. Jahrhunderts. 426 Personen
wurden von den Pocken befallen, dabei starben aber lediglich 20
Menschen.
Das ganze Jahrhundert hindurch war kaum ein Jahr, in welchem keine Pockenfälle registriert wurden. Häufig kam es jedoch nur zu einer marginalen Anzahl von Krankheits- bzw. Todesfällen. Die Zahl von Erkrankungen während des 19. Jahrhunderts lässt sich, wie auch aus Grafik 18 ersichtlich wird, wegen den vielen Fällen, die nicht bekannt wurden sowie den unpräzisen Angaben nicht korrekt ermitteln. Auffällig sind die Höhepunkte der zwei Epidemien von 1831/32 und 1871/72. In den restlichen Jahren kam es selten zu mehr als 200 Erkrankungen. Die 1880er Jahre bis 1894 waren die Periode dieses Jahrhunderts, die wohl am heftigsten von den Pocken heimgesucht wurde. Wie zu sehen sein wird, sank aber die Letalität gegen Ende des Jahrhunderts stetig ab. Nach dem Wegfall der obligatorischen Impfung (und dem Zusammenfallen der Zahl der durchgeführten Impfungen) 1895 kommt es zu einer Phase, in der kaum Pockenfälle auftreten, ja es entsteht sogar den Eindruck, als ob die in den 1870er Jahren von den Impfgegnern aufgestellte Behauptung, dass die "echten Blattern " erst durch die Kuhpockenimpfung richtig verbreitet würden, sich als richtig erwies. Die Gründe für diesen rapiden Rückgang lassen sich vermutlich nur durch Veränderungen des Virus selbst erklären.
Grafik 18 kranke.sas
Insgesamt starben zwischen 1803 und 1900 nachweislich ungefähr
1200(519) Menschen an den Pocken. Wird noch eine (sehr hohe) Dunkelziffer
im Bereich von 100 - 200% angenommen, kommt man maximal auf ungefähr
2000 bis 3000 Tote.
Grafik 19 tote.sas
Diese Zahl ist angesichts der 900'000 Toten(520) im selben Zeitraum eher unbedeutend und vermag die Statistik bei einem Anteil von ca. 0,27% Pockentoter (bei angenommenen 2500 Pockentodesfällen) am Total aller Toten kaum beeinflussen.
In diesem Sinn kann gesagt werden, dass die Pocken im Kanton Bern
während des 19. Jahrhunderts - wenn überhaupt - geringste
demographische Auswirkungen und Konsequenzen zeitigten. Der grösste
Teil der nachgewiesenen Pockentoten entfällt sogar
auf die Zeit nach 1840, auf diese Periode bis 1900 entfallen etwa
750 Menschen. Damit wird auch die Hypothese hinfällig, die
die Baisse der allgemeinen Kindersterblichkeit in der Zeit um
1820 mit dem Rückgang der durch Pocken verursachte Kindertodesfälle
erklären will, da insgesamt Schlichtweg zuwenig Menschen
(dadurch natürlich auch Personen im Kindesalter) an den "Blattern"
starben, um mit deren verschwinden eine allgemeine Tendenz zu
begründen.
Wie verhielt sich die Letalität der Pocken während des 19. Jahrhunderts? Für die Epidemien, von denen Zahlen vorliegen, liessen sich die folgenden Werte berechnen:
1829 16,4% (Basis: 116 Kranke, 19 Tote)
1831/32 9,6% (Basis: 1800 Kranke, 174 Tote)
1845 5,3% (Basis: 207 Kranke, 11 Tote)
1864/65 8,5% (Basis: 529 Kranke, 45 Tote)
1870/72 18,4% (Basis: 2429 Kranke, 448 Tote)
1879 16,2% (Basis: 111 Kranke, 18 Tote)
1881 18% (Basis: 293 Kranke, 54 Tote)
1890/92 9,4% (Basis: 588 Kranke, 55 Tote)
1894 4,7% (Basis: 426 Kranke, 20 Tote)
Anzufügen ist, dass 1831/32 bei einer Dunkelziffer von ca.
1000 Pockenerkrankungen der Letalitätswert auf 6,2% abfallen
würde!
Grafik 20 letalit.cht
Wie es scheint, war bis 1870 die Letalität sehr tief, was den Schluss erlaubt, dass es sich schon damals nicht um reine variola major-Epidemien handelte, sondern um ein Gemisch von auf variola major und variola minor zurückgehende Erkrankungen. 1870 hatte nun aber das variola major-Virus die Oberhand gewonnen (evt. weil es wegen der Mobilisierung von Menschen durch den deutsch-französischen Krieg aus Gegenden gebracht wurde, mit welchen sonst keine Kontakte bestanden) und blieb dominant bis in die 1880er Jahre hinein. Danach kam es anscheinend zur sukzessiven Verdrängung dieses Virustyps durch einen weniger letalen, der aufgrund der Erkrankungszahlen ab 1895 auch seine Virulenz eingebüsst haben muss.
Möglicherweise ist der Rückgang der Letalität auf
den einfacheren Grund zurückzuführen, dass ein Grossteil
der in diesen Epidemien an den Pocken erkrankten Menschen schon
einmal geimpft worden waren. Nachdem die Schutzwirkung nachliess,
konnten sie sich dennoch mit dieser Krankheit infizieren. Jedoch
sollte bei solchen Personen der Verlauf "im allgemeinen gemildert"(521)
sein, was zur Folge hätte, dass die Letalität dadurch
kleiner wurde.
Eindeutig scheint zu sein, dass die Pocken während des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern nicht endemisch waren, obwohl beinahe jährlich irgendwo im Berner Gebiet Fälle vorkamen. Erstens hatten (zumindest ab den 1830er Jahren) nicht mehr vorwiegend und ausschliesslich Kinder an den Pocken zu leiden, sondern es kam zu einer Verschiebung der betroffenen Altersklassen, von denen diejenige der 20-40-jährigen am meisten zu tragen hatte(522). Diese Gruppe agierte in der Regel am "mobilsten" und war deshalb am meisten dem Risiko ausgesetzt, sich irgendwo zu infizieren(523). Hier setzt der zweite Punkt an: die Erkrankungen liessen sich praktisch immer auf Ein- und Verschleppungen zurückführen! Täter in diesem Sinn waren vielfach heimkehrende Soldaten, reisende Handwerksburschen, "Vagabunden", Bettler, Hausierer, Schausteller, das "häufig vorkommende Transportiren von Blatternkranken im Lande herum"(524) etc. aber auch Warenlieferungen aus dem Ausland wurden als Infektionsquelle erkannt(525). Dass es gerade solche Existenzen am Rande der Gesellschaft waren wie Hausierer, "Vagabunden", Schausteller etc. aber auch Soldaten, die bevorzugt zur Verschleppung der Pocken beigetragen haben, scheint einleuchtend zu sein. Diese Personen waren immer von Ort zu Ort unterwegs und hatten dadurch keinen festen Wohnsitz, wo sich sie bei der Manifestation der Symptome hätten zurückziehen können. Damit entfiel gerade die Möglichkeit zur "Selbstisolierung", die wegen den sich einstellenden physischen Unpässlichkeiten vor dem klaren Ausbruch der Krankheit vom bereits infizierten und für die Umgebung gefährlichen Menschen sonst in der Regel praktiziert wurde.
Und als dritten Punkt, der zusätzlich gegen die Annahme endemischer
Pocken im Kanton Bern spricht, ist die zu kleine Bevölkerung
und die zu geringe Populationsdichte zu nennen (vgl. Fussnote
448)!
Zu Klagen Anlass gab immer wieder das nachlässige Verhalten
der Gesundheitsbehörden der Westschweizer Kantone(526) und
Frankreichs, dass keinen Impfzwang kannte. Bei der Epidemie von
1865 ist zu vernehmen: "Was die Sache verlängerte, waren
die stets neuen Einschleppungen aus Nachbarkantonen, namentlich
der französischen Schweiz, in welchen in sanitätspolizeilicher
Hinsicht wenig Ordnung zu herrschen scheint." (527) 1868
wird festgestellt, dass "überhaupt der Jura der von
den Blattern am öftersten heimgesuchte Kantonstheil wegen
des Nachbarlandes, in welchem Alles obligatorisch ist mit Ausnahme
der Gebiete, wo der Zwang am meisten gerechtfertigt wäre
(Unterricht, Impfung, Veterinärpolizei)." (528) 1886
"verdient hervorgehoben zu werden, dass die Fälle meist
von Frankreich eingeschleppt werden, während aus dem deutschen
Reich, wo die Impfung und Isolirung strenge gehandhabt wird, dies
höchst selten vorkommt." (529) Anhand der dokumentierten
Angaben lässt sich unschwer feststellen, dass es in der Tat
die jurassische Region war, die wegen ihrer gemeinsamen Grenze
mit Frankreich am meisten unter Einschleppungen der Pocken zu
leiden hatte.
Die Ursache für die schon angesprochene Verschiebung der
betroffenen Altersklassen kann folgende Gründe haben: Einerseits
konnte durch die Kuhpockenimpfung eine Vielzahl von Kindern den
Pocken entzogen werden. Da die Schutzwirkung entgegen den Vermutungen
nicht in jedem Fall lebenslänglich anhielt, sondern in der
Regel zwischen 10 und 25 Jahren, konnte bei einem "Impfalter"
zwischen ein und fünf Jahren die Immunität im Alter
zwischen 15 und 30 Jahren verloren gehen. Damit war die betreffende
Person ohne ihr Wissen und im Glauben an die Wirkung der im Kindesalter
gemachten Impfung wieder fähig, sich diese Krankheit zuzuziehen
(zudem gab es immer nur eine geringe Anzahl von Revaccinationen
[vgl. Grafik 7]). Andererseits kann durch den Rückgang der
Pockenfrequenz (wahrscheinlich gerade durch die Impfung) zu Beginn
des 19. Jahrhunderts auch der Effekt eingetreten sein, dass nicht
mehr praktisch alle Kinder an den Pocken erkrankten (d.h. auch
diejenigen nicht, die nicht geimpft waren) wie im Jahrhundert
zuvor. Dadurch konnten dann die betreffenden Personen - hatten
sie zudem noch keinen Impfschutz (was nicht ungewöhnlich
war) - für längere Zeit den Pocken entgehen. Traten
diese wieder einmal in Erscheinung, konnten sie dann aber auch
noch mit 20 und mehr Jahren daran erkranken.
Welche Gründe haben eine massgebliche Rolle gespielt, dass die Pocken im 19. Jahrhundert eine soviel grössere Resonanz fanden als im Jahrhundert zuvor?
An erster Stelle ist die eingetretene Verschiebung der von den Pocken betroffenen Altersklasse zu nennen. Solange nur Kinder an dieser Krankheit zu leiden hatten, war auch das Interesse eher gering, sich ausserhalb von medizinischen Kreisen mit den Pocken auseinanderzusetzen. Waren aber nun die "Träger der gesellschaftlichen Oekonomie" dem Risiko des Pockentodes ausgesetzt, mussten sich die Behörden und die Medizin schon aus staatlichem Interesse vermehrt mit dieser Krankheit befassen(530).
Ein weiterer Grund ist sicher ebenfalls der medizinische Fortschritt, der es nun ermöglichte, sich aktiv mit einen doch recht wirkungsvollen Mittel gegen diese Krankheit zu schützen.
Kann eventuell sogar ein allgemeiner Wertewandel in der Gesellschaft, bedingt durch die Veränderung des politisch-sozialen Umfeldes als Folge der französischen (und helvetischen) Revolution und dem Vormarsch liberalen und aufklärerischen Gedankengutes, für diese grössere Publizität verantwortlich gemacht werden?
Im Kanton Bern fanden ab 1750 bis 1804 in den folgenden Jahren Pockenausbrüche statt: vermutlich 1764 und 1768; 1770 bis 1773, 1777/1778, 1781/1782, sporadisch 1793/94, 1798 und 1803/1804. Schwerwiegende demographische Konsequenzen aufgrund dieser Epidemien lassen sich jedoch nicht eruieren, ein "Grosses Sterben" in kurzer Zeit fand nicht statt. Dies vor allem, weil von den Pocken - im Gegensatz zu Krankheiten wie Pest und Ruhr - immer nur ein kleiner Teil der Bevölkerung befallen werden konnte.
Die Pocken hatten sowohl während dem 18. wie während dem 19. Jahrhundert im Kanton Bern keinen endemischen Charakter.
Ab 1804 fanden nach der Regelung des Impfwesens unterschiedlich heftige Epidemien in folgenden Jahren statt: 1810 bis 1812, 1815 bis 1817, 1826 bis 1829, 1831/1832, 1836/37, 1843/44, 1845 bis 1847, 1864/65, 1870 bis 1872, 1879, 1881, 1884/1885, 1890 bis 1892 und 1894.
Insgesamt hatten die Pocken nur einen verschwindend kleinen Anteil am Total aller Todesfälle während des 19. Jahrhunderts.
Zu Beginn des Jahrhunderts war die Letalität bei Epidemien relativ klein, stieg in den 1870er und 1880er Jahren, um gegen Ende des Jahrhunderts wieder abzusinken.
Fast ausnahmslos alle im Kanton Bern registrierten Pockenfälle liessen sich auf Ein- und Verschleppungen zurückführen (hauptsächlich von Frankreich und den Westschweizer Gebieten in den Jura und vielfach durch Reisenden und heimkehrende Soldaten ins Berner Oberland).
Im letzten Kapitel geht es darum, in einer Rekapitulation die
Hypothesen den Ergebnissen gegenüberzustellen und in Thesen
umzuwandeln.
Hypothese 1:
Die Pocken hatten während dem in Bezug auf diese Krankheit
als "dramatischste Zeit" bezeichneten 18. Jahrhundert
schwerwiegende demographische Konsequenzen und forderten eine
Vielzahl an Opfern sowohl unter Kindern wie auch unter Erwachsenen.
Obwohl die Pocken im Kanton Bern ab der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts in epidemischen Zügen einige Opfer forderten,
trifft es nicht zu, dass durch ihr Auftreten die demographische
Struktur erschüttert wurde, was vor allem die Analyse mit
Hilfe der "Krisenindexe" (nach Dupâquier) deutlich
zeigte.
Die Pocken waren während dem 18. Jahrhundert eine Krankheit, unter der fast ausnahmslos nur Kinder zu leiden hatten. Dieser Sachverhalt kann folgendermassen erklärt werden:
- Waren die Pocken in einer bestimmten Region (in dicht besiedelten, bevölkerungsreichen Städten) endemisch vorhanden, war es unumgänglich, dass bei der grossen Infektiosität dieser Krankheit und deren Allgegenwärtigkeit in der Gesellschaft ein Mensch früher oder später daran erkranken musste. Konnten Kinder den Pocken für einige Zeit entgehen, wuchs damit das Potential der Nichtimmunen an, bis es bei genügender Anzahl zu einem epidemischen Ausbruch kam. Diese fanden in der Regel, trotz endemischem Vorkommen der Pocken, alle vier bis acht Jahre statt.
- Waren die Pocken in einer bestimmten Gegend nicht endemisch
vorhanden, blieb diese Krankheit während dem 18. Jahrhundert
dennoch den Kindern vorbehalten. Fehlten endemische Pocken, war
die Chance zwar grösser, sich diese Krankheit für eine
bestimmte Zeitdauer nicht zuzuziehen. Aber es geschah immer wieder,
dass die Viren in eine Region eingeschleppt wurden (z. T. auch
durch die Inokulation). Danach konnte unter den Nichtimmunen,
war deren Potential gross genug, ebenfalls eine Epidemie ausbrechen.
Scheinbar erreichte die Zahl der Menschen ohne Immunität
gegen die Pocken alle vier bis acht Jahre eine kritische Schwelle.
Bei ausreichender Populationsdichte (und grosser Mobilität
der Bevölkerung) kam es nach dem Import des "Starter-Virus"
zu einer schweren, flächendeckenden Epidemie, bei geringerer
Populationsdichte (und kleiner Mobilität der Bevölkerung)
zu lokalen Epidemien. Eine Kinderkrankheit blieben die Pocken,
weil in Ermangelung an effizienten, in grossem Stile einsetzbaren
künstlichen Immunisierungsmitteln die gefährdesten Altersklassen
nicht geschützt werden konnten (was in diesem Falle eine
Verschiebung der hauptsächlich betroffenen Altersgruppen
zur Folge gehabt hätte) und auch dank ihrer grossen Infektiosität.
So mussten während dem 18. Jahrhundert fast ausnahmslos alle
Menschen diese Krankheit in ihrer Kindheit erleiden, da eine wirkungsvolle
Möglichkeit fehlte, den Pocken vorzubeugen.
Die Pocken waren im Kanton Bern sowohl während dem 18. wie auch dem 19. Jahrhundert nicht endemisch, obwohl sich bei den auftretenden Epidemien ein Zyklus mit Abständen von vier bis sieben Jahren nachweisen lässt und beinahe ausschliesslich nur Kinder an dieser Krankheit zu leiden hatten. Diese Annahme beruht auf den folgenden zwei Punkten:
- Der im Kanton Bern ungenügenden Bevölkerungsgrösse und -dichte, die benötigt wird, um die Pocken endemisch zu unterhalten.
- Bei den meisten Epidemien (v.a. denjenigen des 19., aber auch
des 18. Jahrhunderts) konnte nachgewiesen werden, dass die ersten
Fälle auf Einschleppungen zurückgehen.
Dass bei einer Epidemie dennoch kein "Grosses Sterben"
in kurzer Zeit zu verzeichnen war, hängt einerseits mit dem
Umstand zusammen, dass nur der kleinere Teil der Bevölkerung
(derjenige ohne Immunitätsschutz) befallen werden konnte
und andererseits mit der räumlichen Tiefe des Kantons, d.h.
das Kantonsgebiet war bei der vorhandenen Zahl anfälliger
Menschen zu gross, zu wenig erschlossen und nicht dicht genug
besiedelt, um die Pocken gleichmässig zu verschleppen und
verbreiten.
Die Pocken sind als eine in einem Vier- bis Achtjahreszyklus wiederkehrende
Konstante im bernischen Alltag des 18. Jahrhunderts anzusehen,
unter der nur Kinder zu leiden hatten. Durch Pocken bedingte massive
demographische Effekte lassen sich auf Kantonsebene von 1750 bis
1900 nicht nachweisen.
Hypothese 2:
Die Pocken hatten bis ins 19. Jahrhundert hinein einen massgeblichen
Anteil an der grossen Kindersterblichkeit.
Der Rückgang der allgemeinen Kinder- und Säuglingssterblichkeit setzte zaghaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Diese Periode wird allgemein als diejenige bezeichnet, in der die Pocken mit grösster Heftigkeit wirkten (auch im Kanton Bern wurden verschiedene Epidemien in der Zeit von 1750 bis 1800 registriert).
Wenn aber die Pocken wesentliche Ursache der Kinder- und Säuglingssterblichkeit
waren, dürfte in dieser Periode mit nachhaltiger Pockenwirkung
die Mortalität von Kindern nicht tendenziell am Abnehmen
begriffen sein, sondern sollte im Gegenteil eher ansteigen!
Das diametrale Verlaufen der beiden Mortalitätskurven ([vermutliches] Steigen der Pockenmortalität und [tatsächliches] leichtes Absinken der allgemeinen Kindermortalität) schliesst die Pocken als dominierenden Faktor der Kinder- und Säuglingssterblichkeit im 18. Jahrhundert aus.
Deshalb kann das allmähliche Verschwinden der Pocken zu Beginn
des 19. Jahrhunderts den weiteren Rückgang der Kindermortalität
ebenfalls nicht erklären.
Hypothese 3:
Die Pocken forderten das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine
beträchtliche Anzahl von Todesopfern.
Im Kanton Bern starben im Zeitraum von 1803 bis 1900 nachweislich
922 Pockentote, diese Zahl kann bei einer Dunkelziffer von 200%
bis auf 3000 Menschen erhöht werden. Damit hatten die Pocken
einen Anteil von maximal 0,3% am Gesamttotal aller bernischen
Todesfälle von 1803 bis 1900!
Die demographischen Auswirkungen der Pocken während
dem 19. Jahrhundert können somit vernachlässigt werden.
Hypothese 4:
Noch 1871 waren die Pocken ausschliesslich für die damalige
Mortalitätskrise verantwortlich.
Obwohl es sich bei diesem Ausbruch der Pocken um den schwersten des 19. Jahrhunderts handelte, hatten die Pockentoten gerade einen Anteil von 3,1% am Total aller Todesfälle aufzuweisen (448 Pockentote gegenüber insgesamt 13'388 Toten).
Damit fallen sie als wesentliche Ursache der Mortalitätskrise 1871 ausser Betracht und Erklärungen müssen in anderen Bereichen gesucht werden(531).
StAB: Staatsarchiv des Kantons Bern
BA: Eidgenössisches Bundesarchiv
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StAB B XI 2: Vorsorgen die Sanität angehend, Tom. 2, 1748 - 1771.
StAB B XI 3: Vorsorgen die Sanität angehend, Tom. 3, 1771 - 1788.
StAB B XI 9: Instructionen-Buch des Sanitätsrats, enthaltend die behördlichen Erlasse auf dem ganzen Gebiet des Sanitätswesens, 1709 - 1795.
StAB B XI 103: Manuale des Sanitätsrates.
StAB B XI 104: Manuale des Sanitätsrates.
StAB B XI 116: Receptenbücher des Sanitätsrates, 1744 - 1769.
StAB B XI 117: Receptenbücher des Sanitätsrates, 1756 - 1774.
StAB B XI 127: Annotationen über Sanitetsachen, 1709 - 1742.
StAB B XI 160: Sammlung von Gutachten, Vorträgen, Berichten, Befinden aus den Gebieten der Menschen- und Tierheilkunde.
StAB B XI 175: Aktensammlung über das Auftreten epidemischer Krankheiten in verschiedenen Gebieten des In- und Auslandes, 1769 - 1772.
StAB B XI 176: Akten über das Auftreten epidemischer Erkrankungen, 1771 - 1772.
StAB B XI 316: General- und Special-Sanitätstabellen für den deutschen Kantonsteil.
StAB B XI 318: Sammlung von Etats in herrschenden Krankheiten im Land, 1764 - 1784.
StAB B XI 369: Aktensammlung über Krankheiten unter den Menschen, 1804 - 1811.
StAB B XI 370: Sammlung der General-Berichte über das Impfwesen im Kanton Bern, 1804 - 1830.
StAB B XI 371: General-Tabellen über die von patentierten Aerzten im Kanton Bern ausgeführten Schutzpockenimpfungen, 1804 - 1830.
StAB B XIII 628: Vereinzelte Bevölkerungstabellen aus den Oberämtern Trachselwald und Büren, 1807 - 1809.
StAB I.18: Kreisschreiben über die Pockenepidemie 1871.
StAB MS c I, 1: Sammlung von Schriften über Epidemien.
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StAB P.B. (Polizeybuch) A1, 470.
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1785.
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Ruesch Hanspeter: Lebensverhältnisse in einem frühen schweizerischen Industriegebiet. Sozialgeschichtliche Studie über die Gemeinden Trogen, Rehetobel, Wald, Gais, Speicher und Wolfhalden des Kantons Appenzell, Basel 1979.
Ruffié Jacques, Sournia Jean-Charles: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit, Stuttgart 1987.
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Sagan Leonhard: Die Gesundheit der Nationen, Hamburg 1992.
Schelbert Urspeter: Bevölkerungsgeschichte der Schwyzer Pfarreien Freienbach und Wollerau im 18. Jahrhundert, Zürich 1989.
Schlotter Oskar: Die Geschichte der Lepra und der Pocken in Europa, München 1966.
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Senn-Schnyder Maria: Dokumente zur Einführung der Inokulation in der Schweiz, Olten 1981.
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Slack Paul (Hrsg.): Epidemics and ideas, Cambridge 1992.
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Sonderegger Christian: Die Grippeepidemie 1918/19, Lic. phil., Bern 1991.
Sorgésa Beatrice: Contribution à l'étude de l'évolution des structures familiales de l'époque protoindustrielle à l'ere industrielle (Fleurier 1727 - 1914), Diss. phil. (Typoskript), Neuchâtel 1991.
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Vasold Manfred: Pest, Not und schwere Plagen, München 1991.
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Wrigley E. A.: The growth of population in eigteenth-century England: a conundrum resolved, in: Past and present, Nr. 98, 2. 1983, S. 121 - 150.
Wrigley E. A., Schofield R. S.: The population history of England 1541 - 1871, Cambridge 1981.
StAB B XI 104, Originalzitat: "Den 27st Juny 1804. An alle Herren Oberamtsleute mit Ausnahm Bern. Die in mehrern Gegenden unsers Cantons besonders aber im Oberland dieses Frühjahr hindurch geherrschte theils noch herrschende Poken Epidemie hat bey uns den Wunsch erregt, über diesen Gegenstand nähere und bestimmtere Berichte einzuziehen, um ein Resultat daraus zu ziehen, und daselbe bey der allgemeinen Einführung der Schutzblattern Impfung benutzen zu können. Es gelanget demnach unser höfliches Ersuchen an Sie, Tith., uns über folgende Fragen Bericht zu geben.
1. In welchen Gemeinden ihres Amts haben sich die Kindsblattern in diesem Jahr gezeigt und wo herrschen dieselben noch?
2. Wieviel Menschen sind darvon gestorben, und wieviel genesen?
3. Sind die Kranken alle Kinder gewesen, oder haben sich darunter auch erwachsene Personen befunden?
4. Haben vaccinirte Menschen auch die natürlichen Poken bekommen? Bejahenden Falls wieviel sind davon gestorben und wieviel genesen?
5. Wer hat diesen Menschen die Kuhpoken oder Schutzblattern eingeimpft?
Die Beanthwortung dieser Fragen, die Sie am füglichsten und am besten durch die Herren Pfarrherren erhalten könnten, belieben Sie so viel möglich zu befördern."
Abb. 1: Eckart, S. 90
Abb. 2: McNeill, S. 111
Abb. 3: Burnet, S. 203
Abb. 4: Black, S. 209
Abb. 5: Gins, S. 376
Abb. 6: WHO, S. 266
Abb. 7: WHO, S. 269
Abb. 8: Smith, S. 100
Spaltenspezifikation:
A: Jahr
B: Total aller in einem Jahr durchgeführten Eingriffe: gelungene und misslungene Impfungen, gelungene und misslungene Revaccinationen an Armen und Nichtarmen
C: Anzahl der gelungenen Impfungen an Armen und Nichtarmen
D: Anzahl der misslungenen Impfungen an Armen und Nichtarmen
E: Anzahl der gelungenen Revaccinationen an Armen und Nichtarmen
F: Anzahl der misslungenen Revaccinationen an Armen und Nichtarmen
G: Wurden die Impftabellen des betreffenden Jahres komplett eingereicht? ja=0 oder., nein=1
H: Wurde das betreffende Jahr als "epidemisch" bezeichnet? ja=1, nein=0 oder .
I: Anzahl der Pockenfälle (wobei -1= "einzelne Fälle" "einige Fälle" etc.)
J: Anzahl der Pockentoten (wobei -1= "einzelne Fälle" "einige Fälle" etc.)
K: Anzahl der geimpften Pockenfälle
L: Anzahl nichtgeimpfter Pockenfälle
M: Anzahl der impfenden Personen (bis 1827 inkl. Hebammen)
1804 | . | . | . | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | 48 |
1805 | 3049 | 2958 | 91 | . | . | 1 | 1 | -1 | . | . | . | . |
1806 | 943 | 943 | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1807 | 3092 | 3092 | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1808 | 4211 | 4211 | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1809 | 3562 | 3562 | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1810 | 3601 | 3601 | . | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1811 | 3934 | 3934 | . | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | 57 |
1812 | 4319 | 4319 | . | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1813 | 3894 | 3816 | 78 | . | . | 1 | . | -1 | . | . | . | . |
1814 | 2845 | 2794 | 51 | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1815 | 3150 | 3105 | 45 | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1816 | 7397 | 7225 | 172 | . | . | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1817 | 4129 | 3979 | 150 | . | . | . | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1818 | 6508 | 6346 | 162 | . | . | . | . | -1 | . | . | . | . |
1819 | 2795 | 2748 | 47 | . | . | . | . | . | . | . | . | 64 |
1820 | 5564 | 5497 | 67 | . | . | . | . | -1 | -1 | . | . | 72 |
1821 | 4901 | 4874 | 27 | . | . | . | . | . | . | . | . | 74 |
1822 | 5910 | 5842 | 68 | . | . | . | . | . | . | . | . | 86 |
1823 | 6056 | 6007 | 49 | . | . | . | . | . | . | . | . | 84 |
1824 | 5320 | 5276 | 44 | . | . | . | . | . | . | . | . | 70 |
1825 | 7642 | 7602 | 40 | . | . | . | . | 1 | . | . | . | 104 |
1826 | 13899 | 13824 | 75 | . | . | . | 1 | 126 | -1 | . | . | 102 |
1827 | 12877 | 12774 | 103 | . | . | . | 1 | 126 | -1 | . | . | 100 |
1828 | 10681 | 10641 | 40 | . | . | . | . | -1 | . | . | . | 71 |
1829 | 7807 | 7777 | 30 | . | . | . | 1 | 116 | 19 | . | . | 65 |
1830 | 7528 | 7477 | 51 | . | . | . | 1 | -1 | . | . | . | 61 |
1831 | 6346 | 6306 | 31 | . | . | 0 | 1 | 200 | 15 | . | . | . |
1832 | 11795 | 11258 | 136 | 256 | 145 | 0 | 1 | 1600 | 159 | . | . | 59 |
1833 | 5319 | . | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1834 | 6152 | . | . | . | . | 1 | . | . | . | . | . | . |
1835 | 6979 | 6787 | 80 | 63 | 49 | 1 | . | . | . | . | . | 52 |
1836 | 7864 | 7806 | 55 | 3 | 0 | 0 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1837 | 7324 | 7288 | 32 | 4 | 2 | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1838 | 6338 | 6296 | 38 | 1 | 3 | 1 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1839 | 7095 | 7032 | 56 | 3 | 4 | 0 | 0 | -1 | -1 | . | . | 43 |
1840 | 7775 | 7761 | . | 14 | 0 | 1 | 0 | -1 | . | . | . | 41 |
1841 | 9274 | 9231 | . | 43 | 0 | 1 | 0 | -1 | . | . | . | 49 |
1842 | 8532 | . | . | 0 | 0 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | 57 |
1843 | 10654 | 10571 | 84 | 83 | 2 | 1 | 1 | -1 | -1 | . | . | . |
1844 | 11027 | 10468 | 178 | 281 | 100 | 0 | 1 | . | . | . | . | 57 |
1845 | 10060 | 9934 | 115 | 0 | 11 | 0 | 1 | 207 | 11 | . | . | . |
1846 | 10373 | 10282 | . | 91 | 0 | 1 | 1 | . | -1 | . | . | . |
1847 | 9305 | 9095 | 61 | 132 | 17 | 0 | 1 | 60 | -1 | . | . | . |
1848 | 6751 | 6656 | 64 | 30 | 1 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1849 | 9039 | 8846 | 90 | 96 | 7 | 0 | 0 | 26 | . | . | . | . |
1850 | 12403 | 12165 | 100 | 93 | 45 | 0 | 1 | -1 | -1 | . | . | 102 |
1851 | 12290 | 12040 | 103 | 112 | 35 | 0 | 0 | -1 | -1 | . | . | . |
1852 | 9561 | 9004 | 90 | 365 | 120 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1853 | 10590 | 10025 | 97 | 438 | 36 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1854 | 7918 | 7768 | 58 | 73 | 19 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1855 | 10890 | 10587 | 99 | 165 | 39 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1856 | 9136 | 8836 | 35 | 208 | 57 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1857 | 10340 | 10221 | 67 | 45 | 7 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1858 | 12310 | 12192 | 33 | 80 | 5 | 0 | 0 | -1 | . | . | . | . |
1859 | 10352 | 10280 | 48 | 22 | 2 | 0 | 0 | 15 | . | . | . | . |
1860 | 10392 | 10364 | 21 | 5 | 2 | 0 | 0 | 24 | -1 | . | . | . |
1861 | 10971 | 10908 | 23 | 31 | 9 | 0 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1862 | 12002 | 11915 | 26 | 53 | 8 | 0 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1863 | 12541 | 12453 | 35 | 43 | 10 | 0 | 0 | 1 | . | . | . | . |
1864 | 13292 | 12918 | 29 | 266 | 79 | 0 | 1 | 163 | 15 | . | . | . |
1865 | 25209 | 14961 | 81 | 8135 | 1359 | 0 | 1 | 366 | 30 | 273 | 76 | . |
1866 | 12492 | 12294 | 34 | 137 | 27 | 0 | 0 | 38 | 3 | . | . | . |
1867 | 11890 | 11843 | 45 | 2 | 0 | 0 | 0 | 2 | . | . | . | 97 |
1868 | . | . | . | . | . | 1 | 0 | 14 | 1 | . | . | . |
1869 | 10774 | 10691 | 32 | 40 | 11 | 1 | 0 | 10 | 0 | . | . | . |
1870 | 12751 | 12315 | 90 | 223 | 123 | 1 | 1 | 211 | . | . | . | 112 |
1871 | 27888 | 13565 | 175 | 11019 | 3129 | 0 | 1 | 2202 | 358 | . | . | . |
1872 | 17624 | 11908 | 28 | 5634 | 1054 | 0 | 1 | 491 | 90 | . | . | . |
1873 | 12876 | 11625 | 49 | 822 | 380 | 1 | 0 | 9 | . | . | . | . |
1874 | 13025 | 11793 | 27 | 946 | 259 | 1 | 0 | 5 | 2 | . | . | . |
1875 | 18095 | 13022 | 20 | 3798 | 1255 | 0 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1876 | 14995 | 12557 | 14 | 2005 | 419 | 0 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1877 | 12225 | 11066 | 34 | 915 | 210 | 0 | 0 | 24 | 4 | . | . | . |
1878 | 12164 | 11136 | 75 | 799 | 154 | 0 | 0 | 6 | . | . | . | . |
1879 | 10769 | 9917 | 89 | 502 | 261 | 0 | 1 | 111 | 18 | . | . | . |
1880 | 10608 | 10099 | 151 | 272 | 86 | 0 | 0 | 22 | . | . | . | . |
1881 | 17060 | 13677 | 129 | 2606 | 648 | 1 | 1 | 293 | 54 | 176 | 113 | . |
1882 | 8872 | 7206 | 166 | 800 | 350 | 1 | 0 | 43 | 4 | . | . | 101 |
1883 | 5900 | 5120 | 100 | 200 | 100 | 1 | 0 | 44 | 6 | . | . | . |
1884 | 10065 | 9678 | 40 | 280 | 67 | 0 | 1 | 140 | 19 | . | . | . |
1885 | 12277 | 10406 | 65 | 1334 | 472 | 0 | 1 | 240 | 33 | . | . | . |
1886 | 9200 | 9113 | 30 | 49 | 8 | 1 | 0 | 40 | 5 | . | . | . |
1887 | 9618 | 9432 | 52 | 41 | 93 | 0 | 0 | 4 | . | . | . | 101 |
1888 | 8948 | 8762 | 170 | 9 | 7 | 1 | 0 | 4 | . | . | . | . |
1889 | 8680 | 8620 | 18 | 25 | 17 | 1 | 0 | 1 | . | . | . | . |
1890 | 13128 | 11696 | 42 | 1071 | 319 | 0 | 1 | 198 | 20 | . | . | . |
1891 | 12103 | 10451 | 29 | 1238 | 385 | 1 | 1 | 184 | 17 | 96 | 88 | 112 |
1892 | 12350 | 10041 | 21 | 2126 | 162 | 0 | 1 | 206 | 18 | 139 | 56 | . |
1893 | 8738 | 8677 | 39 | 7 | 15 | 0 | 0 | 13 | 1 | 10 | 3 | . |
1894 | 33452 | 27770 | 98 | 4988 | 596 | 0 | 1 | 426 | 20 | 261 | 155 | . |
1895 | 2897 | 2895 | 0 | 1 | 1 | 1 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1896 | 2178 | . | . | . | . | 1 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1897 | 2750 | 2684 | 62 | . | 4 | 0 | 0 | 0 | . | . | . | . |
1898 | 3696 | 3606 | 86 | 3 | 1 | 0 | 0 | 6 | . | . | . | . |
1899 | 3034 | 3012 | 15 | 6 | 1 | 0 | 0 | 1 | . | . | . | 131 |
1900 | 3246 | 3176 | 19 | 47 | 4 | 0 | 0 | 5 | . | . | . | . |